27.02.2020
Solvency II
Regulierung: Wo drückt der Schuh?
Im fünften Jahr des Aufsichtsregimes Solvency II durchleuchtet die EU-Kommission das Regelwerk. Am Ende könnten Verschärfungen stehen: höhere Risikoanforderungen, neue Aufsichtsbefugnisse, zusätzliche Berichtspflichten.
Regulierung sollte passen wie ein Maßschuh: Proportionalität beim Berichtswesen ist eines der Kernanliegen der Kontrolleure. Kleineren Versicherern soll das Leben nicht unnötig schwer gemacht werden.
© axllll / Gettyimages
Die Europäische Versicherungsaufsicht EIPOA wählt ihre Worte sehr genau. Insofern ist es auch kein Zufall, dass die Behörde ihr Dokument EIOPA-BoS-19/465 nicht als Vor- oder gar Ratschlag etikettierte, sondern lediglich als Opinion deklarierte – also als Meinungsbeitrag. Und trotzdem schlug das 878 Seiten starke „Consultation Paper on the Opinion on the 2020 review of Solvency II“ in der Branche als das ein, was es trotz des informell klingenden Titels auch ist: Das wichtigste Ausgangsdokument für die bisher umfassendste Überarbeitung des Regelwerks Sovency II – also der maßgeblichen Regulierungsvorschriften für die gesamte Versicherungsbranche in Europa.
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Der Begriff „Opinion“, für den die Deutschen gern die leicht verbindlichere Übersetzung Stellungnahme wählen, kommt also nicht von ungefähr: Tatsächlich reagierte die EIOPA damit auf eine Bitte der EU-Kommission um technische Hilfestellung bei der Generalinspektion des Regelwerks. Das Konsultationspapier eröffnete den durchaus aufwändigen Prozess der Überarbeitung. Aktuell laufen Tests und Stellungnahmen der Versicherer – im Juni wird die EIOPA dann der ersten Meinungsäußerung eine finale Stellungnahme folgen lassen. Dann beginnt ein Gesetzgebungsverfahren, und Ende 2020/Anfang 2021 liegen dann voraussichtlich die Vorschläge der EU-Kommission auf dem Tisch.
Die eigene Position der Meinung der EIOPA gegenüberstellen
In diesen Wochen also gilt es für alle, die sich der Sache widmen müssen oder wollen, ihre eigene Position zu formulieren und der Meinung der EIOPA gegenüberzustellen. Denn – so viel ist schon heute klar – das, was da jetzt auf fast 1000 Seiten an Vorschlägen ausgearbeitet wurde, klingt zwar in weiten Teilen durchaus technisch. Viele der dort diskutierten Ideen haben aber das Zeug, das immer noch junge Aufsichtsregime kräftig zu verändern – und in vielen Punkten zu verschärfen. Dabei betreffen die bevorstehenden Änderungen im Wesentlichen drei Bereiche: Berechnungsgrundlagen, Aufsichtsbefugnisse und die Berichterstattung.
Solvency-II-Review
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Berechnungsgrundlagen
Hier geht es darum, die Kapitalanforderungen und die Kapitalpuffer neu zu berechnen, die die Versicherer zur Risikovorsorge nachweisen müssen. Das ist schon deshalb nahezu unausweichlich, weil sich die Zinslandschaft seit 2016 maßgeblich verändert hat. „Als Solvency II eingeführt wurde, konnte sich beispielsweise niemand vorstellen, dass die Zinsen im Euro-Raum unter null fallen“, sagt Heinrich Schradin, Direktor des Instituts für Versicherungswirtschaft an der Universität Köln und Mitglied im Versicherungsbeitrat der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die die Branche in Deutschland überwacht. Inzwischen sind Minus-Zinsen aber Realität – und beileibe kein Szenario mehr, das jemanden schockieren oder stressen würde: „Daher wird man die Berechnungsmodelle nun entsprechend ausweiten, um die Realität besser abzubilden.“ Spannend wird sein, welcher Zins die Realität künftig abbilden soll. Müssten die Versicherer künftig mit extrem niedrigen Zinsen rechnen müssen, würde dies viel zusätzliches Kapital kosten – das dann an anderer Stelle nicht mehr für Investitionen zur Verfügung steht.
Stark umstritten ist ein weiterer Diskussionspunkt, bei dem es buchstäblich um einen Punkt geht: Der Last Liquid Point, kurz LLP. Dieser Punkt ist vor allem für Lebensversicherer von überragender Bedeutung für ihr Geschäftsmodell – denn von ihm hängt ab, wie hoch die Rückstellungen ausfallen, die sie für Verträge mit Zahlungsverpflichtungen in ferner Zukunft bilden müssen. Der LLP legt fest, wie weit in die Zukunft die Versicherungsaufsicht mit echten Zinsdaten kalkuliert – und ab wann sie beginnt, zu extrapolieren, also schlicht mit reiner Mathematik theoretische Zinsannahmen fortschreibt.
Um mit echten Zinsen rechnen zu können, braucht es tiefe und liquide Märkte – daher rührt auch der Name LLP. Bisher ging man dabei von einem Zeitraum von 20 Jahren aus. In der Tat existiert dafür ein breiter Anleihemarkt und mit hohem Handelsvolumen, so dass verlässliche Daten vorliegen. In weiterer Zukunft ist das schon schwieriger. Termingeschäfte existieren immerhin noch für etwa 30 Jahre in die Zukunft – danach wird es schwierig, Handelspartner zu finden, die bereit sind, Wetten auf derart langfristige Zinsentwicklungen abschließen. Das ist allenfalls das Geschäft einiger hochspekulativer Hedgefonds.
Gleichwohl enthält das EIPOA-Vorschlagspapier nun gleich fünf Szenarien zur möglichen Veränderung des LLP – und zwei davon sollen den Punkt auf 30 beziehungsweise sogar auf 50 Jahre in die Zukunft versetzen. „Je weiter man den Last Liquid Pont in die Zukunft verschiebt, desto stärker werden die Verzerrungen zu den realen Marktbegebenheiten sein“, sagt Versicherungswissenschaftler Schradin: „Es gibt schlicht keinen liquiden Markt für Zahlungsströme über 50 Jahre.“ Für die Versicherer wiederum bedeutet das: Sie müssten für langlaufende Garantieverpflichtungen deutlich höhere kalkulatorische Zinsrisiken absichern als bisher – binden also viel mehr Kapital, das ihnen dann nicht mehr für Investitionen zur Verfügung steht.
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Aufsichtsbefugnisse
Das große Ziel der Regulierer lautet: die Finanzmarktstabilität sichern – und das auch, falls unwahrscheinliche Ereignisse auftreten, die entweder einzelnen Anbietern oder auch dem gesamten Finanzsystem zusetzen. Solvency II verpflichtet die Anbieter zu umfassenden Stresstests. Als Kontrolleure dienen wiederum Aufsichtsbehörden wie die BaFin – und so wundert es nicht, dass die Revision auch ihre Aufgaben und Befugnisse unter die Lupe nimmt. Eine Kernfrage: Wie können die Kontrolleure sicherstellen, dass Kontrollen auch wirken; und wann und wie können sie dazu in den Markt eingreifen? Solvency II baut dazu auf das Prinzip der Aufsichtsleiter. Heißt: Verschlechtert sich die Solvabilitätssituation eines Versicherers kann die BaFin schrittweise die Kontrollen verschärfen – beginnend mit kürzeren Meldefristen über Sanierungspläne bis zum Entzug der Zulassung.
Ob das funktioniert, ist schwer zu beurteilen, solange keine Krise über das System hereingebrochen ist. Die EIOPA aber diskutiert nun Ideen für erweiterte Aufsichtsbefugnisse bis hin zur früheren Intervention, also noch bevor es um eine Sanierung oder gar Abwicklung geht.
Julia Unkel, Partnerin Financial Services und Leiterin des Versicherungsbereichs bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhouse-Coopers (PwC), hält es für folgerichtig, dass Regulierer versuchen, ihre Befugnisse auf dem Papier schrittweise auszuweiten. „Ich gehe aktuell aber nicht davon aus, dass die BaFin daraufhin ihre Aufsichtspraxis großartig verändern wird, sondern dass sie dies als ergänzende Ma0nahme etabliert“, sagt sie. „Denn es ist auch aus Perspektive der Aufsicht wichtig, Versicherern Stabilität zu geben. Dazu müssen die Marktteilnehmer auch wissen, wann, warum und wie die Aufsicht eingreift.“ Das wiederum dürfte sich kaum vertragen mit immer neuen Pflichten. Aus der Branche ist darüber hinaus in Gesprächen immer wieder zu hören, dass die Aufsicht jedenfalls in Deutschland funktioniere. „Die BaFin kennt ihre Pappenheimer“, sagt ein Vorstandsmitglied eines großen Lebensversicherers: „Da braucht es keine schärferen Kontrollen.“
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Berichterstattung
Zu den in der Branche besonders ungeliebten Solvency-II-Übungen gehört das Reporting. Regelmäßig müssen Versicherer nicht nur aktuelle Daten zu Stresstests an die BaFin übermitteln, sondern auch ausführliche Berichte zu ihrer Lage veröffentlichen – und zwar auf Ebene einzelner Gesellschaften genauso wie auf Gruppenebene. Die EIOPA hat nun allerlei Vorschläge unterbreitet, wie sich Berichte standardisieren und verschlanken lassen und wie sie Versicherungen die Arbeit erleichtern könnte: So können Abgabefristen verlängert, Berichtsstrukturen vereinfacht, Dopplungen vermieden und manche Berichte auch seltener eingefordert werden.
Darüber hinaus sollen die Berichte stärker auf die Interessen einzelner Zielgruppen zugeschnitten werden. Zentral ist dabei der jährliche große SFCR-Bericht („Solvency and Financial Condition Report“). Er könnte künftig um einen „Two-Pager“ zu ergänzen sein. Anders als der dicke SFCR-Datenband richtet sich eine solche Kurzzusammenfassung dann nicht an eine Fachöffentlichkeit, sondern soll Kunden einen schnellen Überblick über die finanzielle Fitness ihrer Versicherung verschaffen. „Der heutige SFCR-Bericht ist mit oft über 100 Seiten schwer verständliches Material“, sagt der Kölner Versicherungswissenschaftler Heinrich Schradin: „Das hat kaum ein Kunde wirklich gelesen und verstanden.“ Insoweit sei grundsätzlich begrüßenswert, wenn die Aufsicht nun eine komprimierte Fassung vorschlage. „Bei einem Zwei-Seiten-Dokument sehe ich aber die Gefahr, dass der Informationsverlust zu groß und die Informationen zu oberflächlich sind. Davon hätte ein Kunde dann auch wieder nichts.“
Schließlich taucht beim Schlagwort Berichtswesen auch immer wieder der Begriff der Proportionalität auf – eines der Kernanliegen der Kontrolleure. Dahinter steht die Idee, kleineren Versicherern das Leben nicht unnötig schwer zu machen. Schließlich haben sie oft ein deutlich weniger komplexes Geschäft und eine finanzielle Schieflage hätte auch weitaus weniger dramatische Folgen als die Krise eines Marktführers. Nun erwägt EIPOA offenbar, die Schwellenwerte anzuheben, ab denen Anbieter voll unter das Solvency-II-Regime fallen – beim Beitragsvolumen wie bei der Höhe der Rückstellungen. Damit könnte künftig für mehr Anbieter der Administrationsaufwand erheblich sinken.
Eine Idee, die sicherlich viele kleinere Versicherungen begrüßen. Denn für sie bedeutet der Stresstest vor allem eines: Stress.
Text: Olaf Wittrock