Neustart
Unsere Titelgeschichte bildet den Auftakt zu einer neuen Serie, die „Positionen“-Leser über das kommende Jahr begleiten wird. Im Rahmen der GDV-Initiative „Du lebst 7 Jahre länger, als Du denkst“ stellen wir Menschen vor, die ihre Zeit nutzen, um sich auf das für sie Wesentliche zu konzentrieren – egal wie alt sie sind.
Monika Funsch
Beraterin für späte Neustarter
Monika Funsch ist die Meisterin des Neustarts. Mehrmals stand sie vor dem beruflichen Nichts: nach 16 Jahren Familienpause etwa oder als ihr Chef seine Firma verkaufte. „Ich frage mich, woher ich immer wieder die Kraft genommen habe“, sagt Funsch, eine neue Stelle zu finden, sich zu beweisen und hochzuarbeiten. Eigentlich kennt die 69-Jährige die Antwort: „Ich hatte ein Ziel vor Augen, deshalb habe ich alle Hürden genommen.“ Die Versicherungskauffrau war Chefsekretärin und auch Personalchefin, bis sie nach dem letzten Jobverlust 2003 beschloss, sich selbstständig zu machen. „Ich wollte keine Chefs mehr, die alles besser wissen.“ In ihrem „Top Forty“-Büro in Bad Homburg im Taunus berät Funsch seitdem Menschen jenseits des 40. Geburtstags, die sich beruflich verändern wollen. Aber sich nicht recht trauen. „Routine untergräbt Kompetenzen“, findet Funsch. Ihre Kunden würden vergessen, welche Potenziale in ihnen steckten. Dann fragt Funsch: „Wer bin ich? Was motiviert mich? Was kann ich? Wo will ich hin?“ Und begleitet ihre Klienten über den Neustart hinaus.
Funsch kennt die Ängste ihrer Klienten aus eigener Erfahrung. Schließlich ist sie selbst erst mit 57 Jahren Unternehmerin geworden, irritiert beäugt von Freunden und Bekannten. „Die heute Älteren sind teils in vorbestimmten Lebensläufen gefangen“, sagt Funsch. Diese Erwartungen abzuwerfen sei ein ebenso nötiger wie schwieriger Befreiungsprozess, der einen pfleglichen Umgang mit sich selbst erfordere: „Wir haben ja schon ein Leben gelebt.“ Aber dieses Leben sei mit 50 oder 60 Jahren ja nicht beendet, auch nicht die Lust auf neue Herausforderungen. Ein Neustart sei immer möglich, sagt Monika Funsch und rät: „Traut euch, öfter etwas Verrücktes zu machen!“
„Warum ich mich mit 57 Jahren selbstständig gemacht habe? Ganz einfach: Ich wollte keine Chefs mehr, die alles besser wissen."
Joachim Otto
Auf nach Görlitz
Die Russen und mit ihnen der Krieg rückten immer näher: Vier Jahre zählte Joachim Otto, als seine Familie 1945 die schlesische Heimat verließ und gen Westen floh. Dort blieb er, studierte Marketing und arbeitete danach in Ludwigsburg für die Bausparkasse Wüstenrot. Als sich sein Arbeitsleben dem Ende zuneigte, kehrte Otto zurück und suchte in Lauban – auf polnisch heute: Luban – nach seinen Wurzeln. Was er fand, sammelte er in einem Buch. So kam Joachim Otto erstmals nach Görlitz: Keine deutsche Stadt liegt näher dran, nur 23 Kilometer sind es bis Luban, hier in Görlitz wollte er sein Buch vorstellen.
Womit er nie gerechnet hatte: Otto verliebte sich in die Stadt, fühlte sich wie verzaubert. „Ich bin anschließend mit meiner Frau Angela und unserer damals 14-jährigen Tochter insgesamt sieben Mal nach Görlitz gefahren.“ Und zog ein Jahr später endgültig 600 Kilometer gen Nordosten.
Tochter Aniela war einverstanden und, ebenso wichtig, Ottos damals erst 42-jährige Gattin fand bei der Görlitzer Wüstenrot-Vertretung einen Job.
Acht Jahre ist das nun her, die Tochter ist aus dem Haus und studiert in Weimar – nicht bevor sie für ihre Eltern dieses Häuschen fand, mit grünem Garten und als Kulisse die Landeskrone, der Görlitzer Hausberg. Joachim Otto beschränkt sich nicht darauf, den Garten in Schuss zu halten. Der 74 Jährige kümmert sich gemeinsam mit seiner Gattin um seine drei Ferienwohnungen in der Görlitzer Altstadt. Ist dort gerade nichts zu tun, setzt er sich an den Schreibtisch und schreibt am nächsten Buch. Sein „Görli und Gregorek“ wird an Görlitzer Gymnasien als Lehrstoff für den Polnischunterricht eingesetzt. Jetzt arbeitet Otto an seinem nächsten Projekt: das Buch als Theaterstück auf die Bühne zu bringen.
„Zurück nach Ludwigsburg, warum? Ich habe in Görlitz meine Wurzeln gefunden."
Beatrix Wirbelauer
Rock’n’Rollerin
Statt zu lamentieren, was im Alter nicht mehr geht, lebt Beatrix Wirbelauer lieber vor, „was in der dritten Lebenshälfte noch alles möglich ist“. Bassspielen lernen und Rockkonzerte geben, zum Beispiel, oder mit 60 Jahren ein berufsbegleitendes Studium der Kulturgeragogik zu starten, also der kulturellen Arbeit mit älteren Menschen. Teil des Studiums ist ein Praxisprojekt: „Wir sollten Ältere dafür gewinnen, ihre Komfortzone zu verlassen und kulturell aktiv zu werden“, sagt Wirbelauer. So wurde sie vor drei Jahren ihr „eigenes Versuchskaninchen“ im Kulturprojekt Rock.
Rockmusik hat Wirbelauers Jugend geprägt, nicht nur beim heimlichen Hören von Piratensendern, auch auf Konzerten von The Who, den Rolling Stones oder den Small Faces. Aber selbst musizieren? Dafür war die Zeit erst jetzt reif: „Mein Projekt soll Rockfans meiner Generation motivieren, selbst Rockmusik zu machen.“
Mit ihrem Konzept „Never too old for Rock’n’Roll“ fahndete sie nach Kooperationspartnern – und erntete reihenweise Absagen. Rock’n’Roll-Rentner – sowas gibt‘s doch gar nicht! Als die Music Academy in Düsseldorf trotzdem einen Versuch wagte, standen schnell 50 Senioren auf der Anmeldeliste.
Mittlerweile proben allein in Düsseldorf vier „60 plus“-Bands. Eine davon heißt „Faltenrock“, hier zupft Beatrix Wirbelauer den Bass und singt – kürzlich übrigens im Kölner Hardrock Café. „Auftritte waren ursprünglich nicht geplant“, sagt sie, „aber jetzt machen sie einfach unglaublich viel Spaß.“
„Ich lebe gern selbst vor, was in der dritten Lebenshälfte noch alles möglich ist."
Rüdiger Nehberg
Dschungelkönig
Ohne Nahrung, ohne Kompass und ohne Waffe seilt er sich von einem Hubschrauber ab in den Dschungel. Mit 68 Jahren. Die nächste Stadt erreicht Rüdiger Nehberg Wochen später, zerschunden, ansonsten aber quicklebendig.
So viel Abenteuer umweht Nehberg, dass gern vergessen wird, dass er 25 Jahre lang in Hamburg eine Konditorei mit 50 Mitarbeitern aufgebaut und geführt hat. Für das Abenteuer blieben damals nur die Urlaubswochen. Die „Torten gegen Torturen“ einzutauschen, wie Nehberg scherzt, sei ihm trotzdem leichtgefallen. Der Beruf habe ihn nicht mehr gefordert. „Jeden Tag kleine Brötchen, alles war zur Routine geworden.“
Doch wenn der gebürtige Bielefelder zurückblickt auf seine erste Lebenshälfte, ärgert ihn nur eines: dass er seine Abenteuer nicht früher mit Sinn aufgeladen hat. Das änderte sich erst, als er seine Konditorei verkaufte und sich für die Rechte der Yanomami-Indianer im Amazonasbecken einsetzte. 18 Jahre lang kämpfte er mit spektakulären Aktionen für ihre Rechte – bis ein akzeptabler Frieden ihr Überleben sicherte. „Solche Erfolge geben mir Kraft und Energie.“
Heute engagiert sich Nehberg mit Ehefrau Annette in seinem Verein Target für das Ende der weiblichen Genitalverstümmelung in der islamischen Welt, auch hier gibt es erste Erfolge. Am Ziel sieht sich Nehberg erst, wenn er mit dem saudischen König ein Banner in Mekka aufhängt: „Weibliche Genitalverstümmelung ist Sünde. Sie beleidigt Allah und den Islam“.
Als Nehberg im Oktober in Saudi-Arabien war, kam er diesem Ziel nicht entscheidend näher. „Aber Rückschläge drängen mich nicht aus der Spur, sondern spornen meine Kreativität an.“ Er hat ja nicht mehr endlos Zeit, wird demnächst 81. Im Januar fliegt Rüdiger Nehberg daher wieder nach Saudi-Arabien. Muss sein, sagt er: „Das geordnete Leben daheim würde mich einschläfern.“
„Jeden Tag kleine Brötchen - irgendwann hat mich mein Job als Konditor nicht mehr gefordert."
Martin Schupeta
Brauer
Und wenn es schiefgeht? Martin Schupeta wirkt nicht besorgt. „Scheitern ist erlaubt.“ Schließlich tritt fast jede Woche ein neuer Brauer an, der auf „Craft Beer“ setzt, handgemachtes Bier mit besonderem Geschmack. Was in Hipster-Kneipen angesagt ist, soll demnächst einziehen in die Regale gut sortierter Supermärkte. Geht es nach Schupeta, steht dort seine Marke „Von Freude“.
Für sie hat der Hamburger eine veritable Karriere bei den Bankhäusern Trinkaus & Burkhardt und Berenberg hinter sich gelassen. Große Mittelständler hat er betreut, „das hat Spaß gemacht“. Gut bezahlt war es zudem, warum hat er das aufgegeben für ungewisse Einkünfte und Aussichten sowie lange Arbeitstage? „Ich bin ein Typ, der gern seine eigenen Entscheidungen trifft.“ Und nicht, wie als Banker, anderen zu Entscheidungen rät.
An Craft Beer ist Schupeta eher zufällig gekommen. Gebraut hat er schon früher, in einem Kochtopf in seiner Küche. Dann hörte er von einer verstaubten Hobbybrauanlage, billig abzugeben. 100 Liter Bier hat er damit gebraut, aus dem Supermarkt Leergut geholt und per Hand gereinigt. Die Flaschen hat er an Freunde und Gastronomen verteilt. Die Resonanz war so gut, dass er sich gedacht hat: Da geht was.
In „Von Freude“ investiert Schupeta seine Ersparnisse aus Bankertagen. Die größte Herausforderung sei derzeit, seine Biere regelmäßig verfügbar zu haben. „Wir gehen das Ganze unternehmerisch an – und lassen die Händler nicht hängen“, sagt Schupeta. Die Angst, dass der Hype um Craft Beer schnell schal werden könnte, hegt der Brauer nicht. Selbst wenn: „Es gibt nichts Gutes – außer man tut es“, zitiert er Erich Kästner. Für ihn gibt es noch einiges zu tun, Martin Schupeta ist ja erst 37.
„Ich treffe gern meine eigenen Entscheidungen."