Aufbruch Ost
Im Kampf um 16,7 Millionen Versicherte schicken die Gesellschaften ihre Vertreter nach der Wende gen Osten. Es wird eine der Erfolgsgeschichten der Wiedervereinigung.
Die Mauer ist offen – die Nachricht des 9. Novembers 1989 verbreitet sich wie ein Lauffeuer und lässt Zehntausende DDR-Bürger zu den Grenzübergängen pilgern. In Dresden bekommt Olaf Horn davon nichts mit. Der Versicherungsinspektor verbringt den Abend auf der Betriebsfeier seines Arbeitgebers, der Staatlichen Versicherung der DDR. Während der Ostberliner SED-Chef Günter Schabowski vor erstaunten Journalisten die Öffnung der Grenzen verkündet, hört Horn die Reden der Parteigenossen über die Bedeutung seiner Aufgabe und darüber, wie die DDR am Westen vorbeiziehen wird.
Von dem historischen Tag erfährt Olaf Horn erst am nächsten Morgen aus dem Radio. Ein Satz nur, und eine ganze Welt gerät aus den Fugen – für ihn wie für Millionen andere Deutsche. Heute, 25 Jahre nach dem Mauerfall, zählen Wirtschaftshistoriker das Zusammenwachsen der deutsch-deutschen Versicherungsbranche zu den großen Erfolgsgeschichten der Wiedervereinigung. „Nach 40 Jahren Planwirtschaft ist innerhalb von wenigen Jahren eine echte Marktwirtschaft entstanden, die 16,7 Millionen Menschen neu und weitgehend bedarfsgerecht mit Versicherungen ausgestattet hat“, resümiert der Versicherungshistoriker Peter Koch, Buchautor der „Geschichte der Versicherungswirtschaft in Deutschland“ und ehemaliger Honorarprofessor für Privatrecht und Versicherungswirtschaft an der RWTH Aachen.
Wende wird zum Wagnis
Bis dahin war es ein steiniger Weg. Olaf Horn erlebt die ersten Monate nach dem 9. November wie einen luftleeren Raum. „Alles, was nicht DDR war, war plötzlich in“, erinnert sich der 53-Jährige. Während die Menschen in Zweierreihen in der Kreisdirektion stehen, um ihre Lebensversicherungen zu kündigen und in D-Mark zu tauschen, zieht Horn von Haus zu Haus, um neue Verträge abzuschließen. „Wie sinnvoll ist diese Aufgabe noch?“, fragt er sich und schließlich seine Chefin. Die mahnt zur Planerfüllung, verlässt die Staatliche dann aber noch vor ihm.
Günter Ullrich, damals stellvertretender Generaldirektor der Staatlichen Versicherung, versucht derweil, des Chaos Herr zu werden. Als die Mauer fällt, hält der Versicherungsmonopolist mit rund 30 Millionen Verträgen 100 Prozent des ostdeutschen Marktes. Doch schon bis Mitte des Jahres 1990 haben von 11,3 Millionen Lebensversicherten rund drei Millionen ihre Verträge gekündigt. Vor Ort fehlt es an den einfachsten Dingen: vom Papier über den Taschenrechner bis hin zum Benzin. Während die Kundendaten im Westen längst elektronisch vorliegen, fahren im Paternoster der Staatlichen Millionen von Karteikarten durch die Etagen. Das Gewicht des rotierenden Aktenschranks ist so immens, dass der Fußboden ihm nur dank dicker Stahlträger standhält. Eine einzelne Karte zu finden, beansprucht Zeit. Finanzielle Rücklagen gibt es in der Planwirtschaft nicht. „Wenn wir nicht mit dem schlingernden Staat untergehen wollten, mussten wir schnellstmöglich einen starken westlichen Partner finden“, sagt Ullrich.
Im März 1990 unterzeichnet die Allianz einen Vorvertrag zur Übernahme der Staatlichen, später Deutsche Versicherungs-AG genannt. Für Ullrich, zum Chef der Deutschen Versicherungs-AG aufgestiegen, ist das der Beginn einer großen Zitterpartie: „Niemand wusste, ob dieser Zusammenschluss ein Super-Deal oder ein Milliardengrab wird“, sagt er. Schaffen es die Mitarbeiter, das Fachwissen aufzuholen, um den West- Vertretern Paroli zu bieten? Gelingt die Konzentration der 160 Niederlassungen auf zwei Standorte? Am Ende schlugen zwei Milliarden Euro an Aufwendungen zu Buche. Rückblickend wertet der Konzern die Integration als vollen Erfolg.
Die Branche versetzt die Übernahme jedoch in Alarmbereitschaft. Im Westen ist die Allianz Marktführer, im Osten quasi Monopolist – die übrigen Versicherer mobilisieren nun alle Kräfte, um die beherrschende Marktstellung aufzubrechen. Konzerne, Makler und Vertreter strömen in Scharen in den Osten. Schließlich geht es um nichts Geringeres als die Neuaufteilung eines ganzen Volkes von Versicherten. Dutzende Wohnwagen und Würstchenwagen haben sie kurzerhand zu mobilen Verkaufsstellen umfunktioniert und ziehen in Karawanen von Stadt zu Stadt. Die Menschen stehen Schlange. Im Herbst 1990 steht fest, dass bis zum Jahreswechsel alle ostdeutschen Pkw neu versichert werden müssen. In nur einem Quartal buhlen so 100 Versicherer um sieben Millionen Kfz-Risiken.
Vom Monopol zur Marktwirtschaft
Die Victoria, heute ERGO, macht sich als einer der ersten Versicherer mit rund 1.200 Mitarbeitern in ihre ehemaligen Stammgebiete um Berlin auf. Treibende Kraft ist der damalige Generaldirektor Edgar Jannott, der selbst aus einer Thüringer Versicherungsfamilie stammt. Wie viele andere Versicherer will die Victoria das Geschäft nicht aus dem Westen betreiben. Mit Dutzenden Wettbewerbern wirbt sie um die ehemaligen Inspektoren der Staatlichen, aber auch um fachfremde Quereinsteiger. Das Konzept geht auf: 500 Millionen D-Mark Investitionen, 3.000 neue Beschäftigte in den neuen Bundesländern stehen einer Milliarde D-Mark Jahresprämienaufkommen gegenüber – keiner hat der Allianz mehr Marktanteile abgejagt.
Drei Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Victoria der zweitgrößte Versicherer Ostdeutschlands. 25 Jahre später existiert das ehemalige Monopol der Staatlichen nicht mehr. „Die Marktverteilung hat sich der im Westen angeglichen“, sagt der Versicherungshistoriker Koch. Weil jeder einzelne Versicherer rasch seine Chancen in dem jungfräulichen Markt suchte, konnte es der Wettbewerb richten. „Natürlich gab es in den ersten Monaten auch schwarze Schafe, die die Unerfahrenheit der Bevölkerung aus-genutzt haben“, sagt Koch. Doch die Gesellschaften hätten die Scharlatane schnell zurückgepfiffen. In jedem Bundesland agieren heute Öffentlich-Rechtliche, Aktiengesellschaften und Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit nebeneinander.
Versicherungsjobs boomen
Einziges Manko: Bislang wurde in Ostdeutschland kein privater Versicherer neu gegründet. Bei den öffentlich-rechtlichen Versicherungsanstalten sieht das anders aus. In Sachsen-Anhalt und Sachsen haben sich Neugründungen erfolgreich am Markt etabliert. Von Magdeburg aus agierten die Öffentliche Feuerversicherung sowie die Öffentliche Lebensversicherung Sachsen-Anhalt. In Dresden wiederum entstand 1992 die Sparkassen-Versicherung Sachsen, in die sämtliche Bestände übergingen, die westdeutsche öffentlich-rechtliche Versicherungsunternehmen seit der Wende akquiriert hatten. Und die Provinzial Rheinland half beim Aufbau einer öffentlich-rechtlichen Versicherung in Brandenburg und schickte spontan Mitarbeiter als Schulungsleiter in die Region.
Gleichzeitig erinnerten sich private Unternehmen wie die Gothaer oder die Alte Leipziger ihrer ostdeutschen Wurzeln und investierten nicht nur in Repräsentanzen und Schulungen, sondern auch in soziale Projekte an ihren einstigen Gründungsorten. Insgesamt pumpten die westdeutschen Versicherer so allein bis 1992 einen Nettotransfer von rund zehn Milliarden D-Mark in den Aufbau eines marktwirtschaftlichen Systems. Innerhalb von drei Jahren schufen sie etwa dreimal so viele Arbeitsplätze in der Branche, wie die Staatliche zur Wendezeit zählte.
Gerade in den Aufbruchsjahren finden viele Quereinsteiger aus akademischen Berufen ihre zweite Karriere in der Assekuranz. Zu DDR-Zeiten führt der Agrarwissenschaftler Thomas Angelrath rund 150 Mitarbeiter im Handelsbetrieb Obst, Gemüse, Speisekartoffeln in Gotha. Die Monate nach dem Mauerfall sucht er neue Perspektiven im Gebrauchtwagenhandel, der bereits nach kurzer Zeit auf die Pleite zusteuert. Parallel fängt er im Oktober 1990 an, nebenberuflich Versicherungen zu verkaufen. Anfang 1991 fasst der Diplom-Landwirt Mut und macht sich direkt von der Autowerkstatt in seinem VW Bulli auf den Weg zum damaligen Landesdirektor der Agrippina-Versicherung nach Erfurt. Auf dem Parkplatz angekommen, tauscht er den ölverschmierten Blaumann gegen seinen besten Anzug, säubert die schwarzen Hände mit Wasser aus dem Kanister – und wird eine halbe Stunde später auf Handschlag zum Bezirksbetreuer mit Verantwortung für 28 nebenberufliche Vermittler.
Zu diesem Zeitpunkt hat auch sein Branchenkollege, der Dresdner Versicherungsinspektor Horn, seine neue Berufung gefunden. Als unabhängiger Makler schließt er im Juni 1990 zunächst einen Kooperationsvertrag mit einer Hamburger Firma, um sich das nötige Know-how für die Marktwirtschaft anzueignen. Den Tag, als er, ausgestattet mit einem roten Renault 5 und dem ersten Vorschusslohn von 1.950 D-Mark, die Rückreise aus Hamburg nach Dresden antritt, wird er nicht vergessen. Im Allkauf nimmt er mit, was ins Auto passt – Ölsardinen, palettenweise Joghurt, eine Elektro-Lok für seinen Sohn und eine Porta-Potti-Campingtoilette für den Garten. „Sie glauben, die Welt gehört Ihnen“, erinnert sich Horn. Heute bereitet sich sein Sohn auf die Übernahme des väterlichen Geschäfts vor. Also alles richtig gemacht? „Wenn ich gewusst hätte, worauf ich mich einlasse, hätte ich sicher mehr über die Entscheidung für die Selbstständigkeit nachgedacht. Aber bereut habe ich sie nie“, sagt Horn.
Text: Lena Bulczak
Bild: Imago