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Mobilität

Wege in die Zukunft: Wie eine nachhaltige Mobilität aussehen kann

Mobilität für alle – ob zu Fuß, per Rad, Bus oder E-Auto. Der Verkehrsraum wandelt sich zum Lebensraum, verbindet Menschen und schützt das Klima. Visionen und Realitäten einer nachhaltigen Mobilität in Deutschland.

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© SUPERBLOCKS Leipzig e. V

Wo einst Autos parkten, säumen heute Bäume und Bänke den Straßenrand: die Hildegardstraße in Leipzig.

In Leipzig machen Einwohnerinnen und Einwohner Verkehrspolitik. Und die Politikerinnen und Politiker unterstützen. Seit Mai 2023 existiert im Leipziger Osten der erste Superblock Deutschlands – eine Straße, durch ein Sperrkreuz vom Durchgangsverkehr bewahrt. Auf der Fahrbahn stattdessen: Holzbänke, begrünte Pflanzkübel, Raum für Menschen zu Fuß und per Rad. Konzerte, After-­Work-­Treffs, Tanzkurse, Spielfeste. Dieses Pilotprojekt im Stadtteil Volkmarsdorf, von der Initiative Superblocks Leipzig angeregt, läuft zunächst ein Jahr. Dann soll das ganze Quartier ein Superblock werden – ohne Durchgangsverkehr, dafür mit freien, auch unversiegelten Flächen, mit Grün, Platz und Ruhe. 

Leipzigs Baubürgermeister Thomas Dienberg eröffnet den Superblock gemeinsam mit den Engagierten: „Wir sind sehr gespannt, wie unser erster Schritt ankommt und was wir aus dem Verkehrsversuch lernen können.“ Wie in der knapp 600.000 Menschen zählenden Stadt Leipzig wollen auch andere Initiativen in Hamburg, Berlin und München Superblocks einführen.

Ihr Vorbild ist Barcelona. Ein Netz aus Superblocks durchzieht die katalanische Hauptstadt. Die Straßen im Quadrat um jeweils neun Häuserblocks sind für den Durchgangsverkehr gesperrt, mehrspurige Fahrbahnen auf eine Autospur reduziert, Tempo-­20­-Zone. Auf den anderen wachsen Pflanzen und Bäume in Kiesbeeten, stehen Bänke und Spieltische. Straßen als erweiterte Wohnräume. Seit 2017 wächst die Zahl dieser Superblocks stetig. 503 sollen es in der Metropole werden – 60 Prozent des Straßenraums. Ursprünglich erfunden, damit die Menschen im heißen, dicht besiedelten Barcelona mehr Freifläche haben, entpuppen sich die Superblocks auch als Modell einer zukunftsweisenden Lebensweise: Weniger Abgase und Lärm, weniger Hitze erhöhen die Lebenserwartung und Lebensqualität der Menschen. Und kurbeln die Wirtschaft an. Die Zahl lokaler Geschäfte wächst in den bestehenden Superblocks um 30 Prozent.

„Zukunftsfähige Mobilität sollte jedem Menschen Wahlfreiheit gewährleisten: Wie möchte ich unterwegs sein?“ Die Mobilitätsexpertin Katja Diehl skizziert eine Verkehrswende aus zweierlei Gründen: Weil die gegenwärtige autozentrierte Gesellschaft Millionen Menschen von selbstbestimmter Mobilität ausschließt, Kinder und alte Menschen vor allem. Und weil der CO2-­Ausstoß des Autoverkehrs sogar steigt, statt zu sinken. Allein 51 Prozent der Emissionen im Mobilitätsbereich stammen aus individuellen Pkw­-Fahrten. Dank E­-Antrieb sei Radfahren auch für ältere Menschen möglich – wenn es ein gutes, sicheres Radwegesystem in Städten und auf dem Land gäbe. „Andere Länder, etwa im skandinavischen Raum, können das ja auch“, so Diehl, und sie verweist auf Helsinki und dessen Vision Zero. Seit zwei Jahren sei dort kein Kind mehr im Straßenverkehr gestorben. In Deutschland sterben täglich acht Menschen, gibt es 158 Schwerverletzte. 

On-Demand-Busse

In Mecklenburg­-Vorpommern verkehrt der ILSE­-Bus. Ein Rufbus, der dann fährt, wenn der reguläre Bus nicht fährt, und dorthin, wohin das öffentliche Netz nicht reicht. Zwei Landkreise nördlich der Mecklenburger Seenplatte – viel freie Fläche, wenig Menschen, weite Wege – leisten sich den Lückenschließer. Der Verkehrsbetrieb nennt den ILSE-­Bus selbstbewusst: On­-Demand­-Bus. Und das ist er auch. Die sechs Fahrzeuge kommen auf Abruf, mindestens 60 Minuten vor Fahrt­beginn telefonisch oder online bestellt. 3.900 Fahrgäs­te steigen jährlich ein – und das in einer Region, in der nur wenig mehr als 50 Menschen pro Quadratmeter le­ben. Vor allem ältere, doch zunehmend auch solche, die aus Nachhaltigkeitsgründen aufs Auto verzichten. Die Flotte wächst, das Streckennetz auch. 15­mal wird der ILSE­-Bus täglich gerufen, für einen Aufpreis von einem Euro fährt er direkt vor die Wohnungstür.

© Amac Garbe
„Wir brauchen eine Autokorrektur“
Katja Diehl, Autorin und Mobilitätsaktivistin für eine umfassende Verkehrswende

Deutschland braucht mehr solcher Angebote, sagt Katja Diehl. Postbusse etwa, die Waren und Menschen in länd­lichen Räumen befördern; Bahnbusse, die die Lücken im Zugnetz schließen. Oder eben On-­Demand-­Busse auf dem Land wie den ILSE­-Bus, von denen es 80 in ganz Deutschland gibt. Dazu kleinere E­-Autos, die mit anderen geteilt werden. Diehl: „Deutschland hatte mal einen gut funktionierenden Nah-­ und Fernverkehr. Den müssen wir wieder auf-­ und ausbauen.“

Sichere Radwege

Verkehrswende von unten. Im Landkreis Ostprignitz­ Ruppin in Brandenburg machen sich Menschen für einen Radweg stark. Die zehn Kilometer lange Strecke soll das kleine Linum mit Kremmen verbinden, mit Stadt und Bahnhof. Einen Bus gibt es nicht, nur eine enge Landstraße, die sich Radfahrende mit Individual­-, Landwirtschafts­- und Wirtschaftsverkehr teilen. Lebensgefährlich. Ein Teilstück haben die Einwohnenden per Unterschriften erstritten, eingeweiht im Frühjahr 2023, als die zahlreichen Störche rund um Linum wieder brüten. In Land­- und Bundestag machen sich die Engagierten weiter für den längeren Rest stark. 

In Karlsruhe sind auf über 100 Kilometern des Straßennetzes die Autos Gäste, nicht Protagonisten. Die Stadt, die darauf stolz ist, die Heimatstadt von Karl Freiherr von Drais, dem Erfinder des Ur-Fahrrads, zu sein, gewinnt bereits 2015 den Titel der „Fahrradhauptstadt Deutschlands“ des Allgemeinen Deutschen Fahrrad­-Clubs. Mehrere Radrouten vernetzen Innenstadt und umliegende Regionen, der Anteil des Radverkehrs liegt bei 31 Prozent und hat sich in den vergangenen Jahren verdoppelt. Stück für Stück drängt Karlsruhe den Autoverkehr aus der Innenstadt zurück, zum Beispiel unter die Erde, wertet Pkw­-Parkplätze durch Grün und Entsiegelung zu öffentlichen Plätzen auf. Mit dem Programm „Zukunft Innenstadt“ soll noch mehr Klimaanpassung und Lebensqualität umgesetzt werden. Der Anteil nachhaltiger Mobilität soll in der 320.000­ Menschen­stadt auf 70 Prozent steigen. 

Laut Katja Diehl würden 70 Prozent der Deutschen mehr Fahrrad fahren, gäbe es mehr sichere Radwege. Dass das machbar sei, beweise zum Beispiel eine fünfköpfige Familie auf dem Land, die komplett ohne Auto auskomme. „Wir verbinden in Deutschland Autofahren mit Freiheit. Das ist der falsche Freiheitsbegriff.“

Mobil zu Fuß

Die Stadt Erfurt, Heimat für 215.000 Menschen, ist eine Modellstadt für den Fußverkehr. Wie es sich in ihr gut gehen lässt, hat sie sich vom Fachverband für Fußverkehr FUSS e. V. und vom Bundesumweltministerium analysieren lassen. Bereits jetzt ist das historische Zentrum der Thüringer Landeshauptstadt Fußgängerzone, in den Seitenstraßen herrschen Parkverbot und Tempo 20. Nun soll das zentrumsnahe Quartier um den Johannesplatz ein Spaziergangs-­Quartier werden, weil zu Fuß gehen „energiesparend, klimafreundlich, sozial und gesund ist“, so FUSS e. V. Manche der notwendigen Schritte sind unaufwendig, etwa das Absenken von Bordsteinen oder sichere Schulwege für Kinder. Andere bedürfen eines längeren Atems, etwa sichere Straßenüberquerungen, freie Sichtachsen für Menschen zu Fuß oder ein durchgängiges Fußwegesystem. 

Auch in Sachen Fußverkehr macht die Superblock­-Stadt Leipzig Tempo. Als erste deutsche Stadt hat die sächsische Metropole einen Fußverkehrsbeauftragten – der begutachtet jegliche städtische Planung auf Tauglichkeit fürs Zufußgehen. „Jeder Mensch sollte das Recht haben auf ein Leben ohne eigenes Auto“, sagt Verkehrsexpertin Katja Diehl. Auch dafür könne Barcelona Vorbild sein, das die erste Stadt der Welt ohne Autos werden will.

Text: Katharina Fial

Der Text stammt aus dem aktuellen Naturgefahrenreport des GDV. Die vollständige Broschüre können Sie sich hier herunterladen.