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Klimafolgenanpassung

Nahe an den Kipppunkten

Ohne strengeren Klimaschutz steuert die Welt auf einen Temperaturanstieg von 2,8 Grad zu. Was würde das für unsere Lebenswelt, für unser soziales Gefüge bedeuten? Auskünfte von Klimaforscher Fred Hattermann und Klimasoziologin Ilona M. Otto.

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© Rober Bye / Unsplash
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„Wir sind auf dem schlimmsten Pfad“
Dr. Fred Hattermann, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung

Herr Hattermann, was bedeutet eine um 2,8 Grad wärmere Welt?
Fred Hattermann: Wir sind jetzt bei 1,2 Grad mehr als im vorindustriellen Zeitalter, in Deutschland bei 2 Grad. Und wir sehen jetzt schon: Der Osten und Nordosten werden trockener, es gibt extreme Hochwasser wie 2021 an der Ahr oder 2013 an der Elbe. Diese Extreme werden weiter zunehmen, denn durch die Erderwärmung verändert sich der Wasserkreislauf. Wärmere Luft nimmt mehr Feuchtigkeit auf, diese bleibt länger in der Atmosphäre. Es regnet weniger, aber wenn, dann als extremer Starkregen. Zweitens: Wetterlagen verweilen länger, wie 2018 die Dürre in Europa oder die lang anhaltenden Regenfälle 1997, 2013 und 2021, die zu verheerenden Hochwassern geführt haben. 2,8 Grad global bedeuten 4 Grad mehr für Deutschland. Es ist sehr realistisch, dass wir das schon 2050 erreichen.

Was hat das konkret für Auswirkungen?
Hattermann: Bei global 2 Grad mehr erreichen wir die ersten Kipppunkte, an denen unumkehrbare Prozesse in Gang gesetzt werden, die wir nicht mehr beeinflussen und auch nicht mehr absehen können. Beispielsweise das Grönlandeis, ein jetzt 3.500-Meter-Eispanzer. Durch das Abschmelzen gerät er in wärmere atmosphärische Schichten, die eine noch stärkere Schmelze bewirken. Der Meeresspiegel kann bis zu sieben Meter steigen. Bis zum Ende des Jahrhunderts steigt er wahrscheinlich zunächst um ein bis 1,8 Meter. Das lässt sich an der norddeutschen Küste möglicherweise noch durch höhere Deiche bewältigen. Doch ein höherer Meeresspiegel bedeutet auch stärkere Hochwasser – und deren Dimensionen können wir nicht berechnen.

Und die Hitze, von der Sie sprachen?
Hattermann: Wir werden noch mehr Hitzetage über 30 Grad und mehr tropische Nächte über 20 Grad haben. Das ist eine Belastung vor allem für vulnerable Menschen, auch das Arbeiten im Freien wird gefährlicher. Die Produktivität wird abnehmen. Dem gegenüber sind wir ohnmächtig.

Lässt sich an diese Welt überhaupt anpassen?
Hattermann: Wenn überhaupt, wird es sehr teuer. Es gibt Anpassungsgrenzen, und wir hinken dem Klimawandel jetzt schon hinterher. Wir haben schon Dürren, die wir erst später erwartet hätten.

Was also kommt auf uns zu?
Hattermann: Im Moment sind wir auf dem schlimmsten Pfad. Viele Auswirkungen können wir nicht berechnen. Wenn Hochwasser zum Beispiel Brücken niederreißen, sind ja auch Firmen betroffen, deren Wirtschaftsverkehr über diese Brücken läuft. Oder Hilfstransporte und Notarztfahrten. Diese sogenannten verbundenen Effekte können wir nicht absehen.

Das klingt katastrophal.
Hattermann: Noch haben wir es in der Hand, den Temperaturanstieg zu verringern. Vielleicht noch zehn Jahre. Und wir sollten sehen, was wir gewinnen, wenn wir CO2-Ausstoß vermeiden: naturnahe Wälder; Städte, die grüner, kühler, sicherer und gesünder sind. Unsere Wirtschaft wird autarker, weil wir nicht mehr vom Import fossiler Rohstoffe abhängig sind. Im Grunde ist Klimaschutz ein riesiges Konjunkturprogramm.

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„Es gibt Fenster der Hoffnung“
Prof. Dr. Ilona M. Otto, Wegener Center für Klima und Globalen Wandel an der Universität Graz

Frau Otto, wie wirkt sich der Klimawandel auf unser soziales Gefüge aus? 
Ilona M. Otto:
Schon jetzt leiden Menschen weltweit unter den zunehmenden Hochwassern und Dürren, es gibt mehr Hitzetote. Dieses Leiden wird zunehmen. Und es gibt die sogenannten Klimafolgenkaskaden, etwa in Handel und Migration. Im Arabischen Frühling kam es zur Revolte, weil die Lebensmittelpreise aufgrund der Dürre 2011/2012 weltweit stiegen. In Großbritannien stieg die Zahl der Menschen, die auf Lebensmittelhilfe angewiesen sind, um 50 Prozent. 

Was ist zu erwarten, wenn es immer heißer wird? 
Otto: Es wird große Migrationsflüsse geben. Die Ärmeren migrieren zunächst in Nachbarregionen, auf unsicheren und illegalen Wegen. Die Reichen können weiter weg fliehen. Der Druck aufs Land, auf Ressourcen und auf Trinkwasser wird größer. Das führt zu Spannungen in den Aufnahmeländern, verstärkt Konflikte. Hinzu kommen Gefahren für die menschliche Gesundheit: Allergien, Lungenkrankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Gelingt uns eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf etwa zwei Grad, können wir uns anpassen. Höhere Werte bedeuten das Ende des Mensch-Natur-Systems, wie wir es kennen.

Was wird sich verändern?
Otto: 
Nationalgrenzen werden ihre Bedeutung verlieren. Es wird wichtiger, in welchen Regionen es noch Lebensgrundlagen gibt. Krankenversicherungen werden die gesundheitliche Versorgung nicht mehr finanzieren können. Lebensmittel werden so teuer, dass sie sich auch in Europa nicht mehr alle leisten können. Es wird bis zu 50 Prozent weniger Trinkwasser geben.

Was hat das für Konsequenzen?
Otto: 
Vielleicht können das Menschen überleben, aber nicht in der Stärke der jetzigen Population. Die Menschen werden nicht warten, bis sie sterben, sie werden wandern und um Grundressourcen kämpfen. Wir müssen tun, was wir können, um dies zu verhindern.

Wie kann das geschehen?
Otto: 
Wir brauchen positive soziale Kipppunkte, die Gesellschaften unumkehrbar in die klimaneutrale Richtung lenken. In erster Linie mehr erneuerbare Energien, keine Subventionen mehr für fossile Rohstoffe. Wir brauchen die klare soziale Norm und Ächtung: Wer Emissionen erzeugt, verursacht menschliches Leiden. Wir brauchen klimaneutrale Städte, ein stärkeres Investment der Finanzmärkte in erneuerbare Energien, Klimabildung ab der Grundschule. Und eine verlässliche Zertifizierung, welche Produkte wirklich klimaneutral sind. 

Wer soll das initiieren?
Otto: 
Wir alle. Egal, wie klein die Schritte zu nachhaltiger Lebensweise oder Mobilität sein mögen. Besonders gefragt sind die Privilegierten, die in der Regel auch die meisten Emissionen erzeugen: Wenn ich schon in einem großen Haus wohne, kann ich zumindest eine Solaranlage aufs Dach bauen. Privilegierte haben auch oft führende Positionen in Wirtschaft und Politik. Sie können den emissionsfreien Wandel unterstützen.

Interviews: Katharina Fial

Die Interviews stammen aus dem aktuellen Naturgefahrenreport des GDV. Die vollständige Broschüre können Sie sich hier herunterladen.

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