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Klima

Vor Ort in Ostfriesland: Der Anstieg des Meeresspiegels bringt neue Gefahren mit sich

Die raue Nordsee und das flache Binnenland sorgen dafür, dass Ostfriesland vom Klimawandel besonders bedroht ist. Die Region weiß sich allerdings zu schützen – und das muss sie auch, denn gegen Sturmfluten versichert ist kaum jemand.

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© Jonas Ginter

Das Rennen gegen das Wasser: In Ostfriesland stehen Küstenschutz und Binnenentwässerung auf der Tagesordnung.

Ein Sommernachmittag in Bensersiel. Familien mit Kindern tummeln sich unter der Nordseesonne am Strand, Möwen kreischen in der salzigen Luft, an der Promenade schlecken Urlauber ihr Eis. Ostfriesland, ein Ferienparadies. Dass ein anderer Teil Deutschlands gerade von der schlimmsten Flut der vergangenen 60 Jahre heimgesucht wurde, darauf deuten nur die Schlagzeilen der Zeitungen in Bensersiels kleinen Läden hin. Neben Nordsee-Verkaufsschlagern wie Moin-Moin-Tassen, gelben Gummistiefeln und Muschelketten trüben sie die Urlaubsstimmung kaum. Auch Meinhard Edzards wirkt entspannt, als er die Tür des etwas in die Jahre gekommenen Büros im Sielwerk aufschließt.

Das Sielwerk, ein verschließbarer Gewässerdurchlass im Deich, reguliert den Weg des Wassers aus dem Binnenland durch den Deich in die Nordsee auf der anderen Seite. Es ist Edzards Hoheitsgebiet: Der Agraringenieur ist seit 1993 Geschäftsführer der Deich- und Sielachten in der Kleinstadt Esens, zu der das beschauliche Bensersiel gehört. Edzards ist ein Mann, der sich auskennt mit Wasser und den Gefahren, die es mit sich bringen kann.  Ob ihm die Bilder der Fluten im Westen des Landes Angst machen? „Nein“, sagt er. Der Umgang mit dem Wasser sei im Norden ein ganz anderer als in Nordrhein-Westfalen oder in Rheinland-Pfalz. „Für uns gehören der Küstenschutz und die Binnenentwässerung seit Hunderten von Jahren zur Infrastruktur.“

© Jonas Ginter

Pumpen: Das Schöpfwerk Dornumersiel befördert Oberflächenwasser aus dem Binnenland durch einen Deichdurchlass ins Meer.

An die Sturmflut von 1962 erinnert man sich im Norden mit Schrecken

Warum sich Menschen in Norddeutschland nicht erst seit Fridays for Future mit Hochwasserschutz beschäftigen, lässt sich in Geschichtsbüchern nachlesen. Immer wieder suchten Flutkatastrophen die Küste heim. Bekanntestes Beispiel ist „die schreckliche Sturmflut von 1962“, wie Edzards sie nennt. Sie traf zwar vor allem die Region um Hamburg, rüttelte aber auch die Menschen in Ostfriesland auf. Damals löste der Orkan Vincinette eine Sturmflut aus. Ungeahnte Wassermassen drückten in die Unterläufe von Elbe, Weser und einiger ihrer Nebenflüsse. Deiche brachen, Straßen und Häuser wurden überflutet, 340 Menschen kamen ums Leben, die meisten in Hamburg. Ein so gewaltiges Ausmaß konnte die Katastrophe nicht zuletzt deshalb erreichen, weil die Deiche schlecht gepflegt oder schlicht zu niedrig waren. 

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Prüfen: Sielacht-Chef Edzards (links) überwacht die Entwässerung.

Heute werden die Deiche und die Entwässerung des Binnenlands regelmäßig überwacht, in ihren Ausbau fließt viel Geld. Sielverbandschef Edzards weiß aber auch: Die Situation wird bedrohlicher. Schuld ist der Meeresspiegelanstieg und die Erderwärmung. In den vergangenen 100 Jahren ist der Meeresspiegel an der deutschen Küste um mindestens 15 Zentimeter gestiegen. Das hat der Meeresspiegelmonitor des Helmholtz-Zentrums Geesthacht (HZG) für Material und Küstenforschung ergeben. Künftig  soll der Meeresspiegel noch viel stärker steigen. Wenn der Ausstoß von Treibhausgasen auf seinem aktuellen Niveau bleibt, könnte er hierzulande in den kommenden 100 Jahren um ganze 110 Zentimeter zulegen.

Im Westen von Bensersiel rollen die Bagger: Der Deich muss wachsen

Die Deiche müssen also höher werden. In Bensersiel fehlen rund 80 Zentimeter, damit die Anwohner und ihre Häuser ausreichend geschützt sind. Wo bislang ein sattgrüner Deich mit Schafen stand, klafft deshalb jetzt eine sandige Baustelle. „Moin Chef!“, wird Meinhard Edzards vom zuständigen Bauleiter begrüßt. „Die Leute, die hier arbeiten, kommen meist aus der Umgebung“, erzählt Edzards, der sich eine neonorangene Sicherheitsweste überwirft. „Das ist wichtig für so ein Projekt, denn hier fließt eine Menge Zeit und Energie rein. Wenn die Arbeiter wissen, dass sie ihre eigenen Häuser schützen, fallen eventuelle Wochenendschichten auch nicht so schwer.“ Die Bauarbeiter erhöhen den Deich gleich um 130 Zentimeter. Dafür verwenden sie Sand und Klei, also entwässerten Schlick mit hohem Tonanteil. Die Baustelle im Westen des beschaulichen Nordseeheilbads ist nur der Anfang, in den kommenden Jahren werden die anderen Deichabschnitte folgen.

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Baggern: Um bis zu 110 Zentimeter könnte der Nordseepegel steigen. Die neuen Deiche werden sogar um 130 Zentimeter höher.

Dass in Bensersiel und anderenostfriesischen Küstenorten die Deiche erhöht werden, soll die Menschen und ihr Eigentum vor den Folgen des Klimawandels schützen. Wenn die Nordsee an einem Sommertag wie heute träge Wellen an den Strand spült, ist der Gedanke an Flutkatastrophen und extreme Wetterereignisse fern. Aber was passiert, wenn wirklich noch einmal ein Deich brechen sollte? Oder wenn das Wasser so stark steigt, dass die Häuser in der ersten Reihe hinter dem Deich überflutet werden? „Sturmflut ist ein besonderes Phänomen, da Versicherungsschutz für diese Gefahr kaum nachgefragt wird“, erklärt Alexander Küsel, Leiter der Schadenverhütung im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Das liege unter anderem an dem gut ausgebauten Deichsystem, das die Orte an der Küste schützt. „Vor allem in Gegenden, die durch Jahrhunderte der Wasserhaltung mittlerweile deutlich unter dem Meeresspiegel liegen, hat der Deich oberste Priorität. Denn es geht um Menschenleben – und die kann kein Versicherer der Welt ersetzen“, sagt Küsel.

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Bauen: Ein Gemisch aus Klei und Sand verleiht den neuen Nordseedeichen eine hohe Stabilität.

 

Die Menschen vertrauen den Deichen, Bedarf für eine Versicherung sehen die meisten nicht. Deutschlandweit hat mit der Itzehoer Versicherung denn auch nur ein Anbieter eine spezielle Sturmflutpolice im Programm. Dabei gibt es in Ostfriesland neben Sturmfluten von der Seeseite noch weitere Gefahren durch Wasser: durch Starkregen und Flussausuferungen. Dass diese Naturphänomene auch in Bensersiel und Umgebung eine Rolle spielen, wird klar, wenn Edzards im Sielwerk eine leicht vergilbte Karte ausrollt. Darauf zu sehen ist ein riesiges Netz aus „Gewässern dritter Ordnung“: kleine natürliche Fließgewässer sowie künstlich angelegte Gräben, die ins Meer fließen – manche auf direktem Weg, andere über größere Flüsse. In der grünen Landschaft fallen die Gräben unter dem buschigen Gras kaum auf, doch sie ziehen sich wie Adern durch die gesamte Region.

Wie bekommt man das Wasser raus aus dem flachen Land?

Für den Hochwasserschutz ist dieses Grabennetz extrem wichtig. Denn das Problem im flachen Ostfriesland ist: Wenn es regnet, kann das Wasser auf natürliche Weise kaum abfließen. Denn vor dem Meer steht der meterhohe Deich, der die Anwohner vor Sturmfluten und dem steigenden Meeresspiegel schützt. „Bei starkem Regen kann das Wasser also erst in die Binnengewässer und dann in die Nordsee fließen“, erklärt Edzards. Noch funktioniere das sehr gut. Doch die Klimaforschung zeigt eindeutig, dass Wetterextreme zunehmen. Starkregenereignisse wie im Juli 2021 in Nordrhein Westfalen und Rheinland-Pfalz wird es künftig häufiger geben. Das System der kleinen Gräben in Ostfriesland könnte irgendwann nicht mehr ausreichen. „Dann müssen wir uns überlegen, ob wir zum Beispiel größere Becken anlegen, die Wasser auffangen“, sagt Edzards. Konkrete Pläne gibt es noch nicht, Studien werden aber schon erstellt. 

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„Küstenschutz und Binnenentwässerung gehören für uns zur Infrastruktur“
Meinhard Edzards

Vorläufig liegt sein Augenmerk aber auf der Deicherhöhung. Es gibt noch genug zu tun. Schon heute glauben Edzards und sein Bauleiter zu wissen, dass die bestellten 36.000 Kubikmeter nicht ausreichen könnten. Hinzu kommt die unvorhersehbare Wettersituation – bislang war der Sommer in Bensersiel trocken und warm, aber das Wetter kann schnell umschlagen, wie man gerade erst im Westen des Landes gesehen hat. „Wenn es hier so viel regnen sollte, kann man die Baustelle erst mal lahmlegen“, sagt Edzards, dessen Schuhe in den klebrigen Klei sinken. Langsam steigt das Nordseewasser hinter dem aufgeschnittenen Deich wieder, die Flut bahnt sich an, pünktlich zum Feierabend auf der Baustelle. Auf die Couch geht es für Edzards allerdings nicht. Er muss noch zu einem DLRG-Treffen. Der Sielacht-Chef ist Sicherungstaucher, im Notfall birgt er verirrte Wattwanderer. Ein Vollblut-Ostfriese eben. 

Text: Celine Schäfer