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Rente & Vorsorge

Reformen des britischen Rentensystems: Zwischen Versuch und Irrtum

Kaum ein Land in Europa war bei der Altersvorsorge so reformfreudig wie Großbritannien. Doch aller Flexibilität und Kapitalmarktorientierung zum Trotz: Gelöst sind die Probleme der Altersvorsorge auf dem größten Versicherungsmarkt Europas längst noch nicht.

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© Lau­rindo Feli­ciano

Ob betriebliche Altersvorsorge, Renteneintrittsalter, Anlagestrategie oder Auszahlungsmodalitäten: Im Rentensystem des Vereinigten Königreichs blieb in mehreren Reformschritten kaum ein Stein auf dem anderen.

Wenn es um Geschichte und Tradition geht, macht den Briten so leicht niemand etwas vor. Der Wachwechsel vor dem Buckingham Palace läuft seit Jahrhunderten ab wie ein gut geöltes Uhrwerk, Strafrichter tragen bis heute weiße Perücken, und im zurückliegenden Sommer ließen Tausende Fans keinen Zweifel daran, wer den Fußball erfunden hat – auch wenn die ersehnte Europameister-Trophäe elfmeterbedingt am Ende nicht in London blieb. Was ja fast auch schon wieder eine Art Tradition ist.

In Sachen Altersvorsorge erwies sich dagegen kaum ein Land in Europa in den vergangenen zwei Jahrzehnten als so reformfreudig wie Großbritannien. Ob betriebliche Altersvorsorge, Renteneintrittsalter, Anlagestrategie oder Auszahlungsmodalitäten: Im Rentensystem des Vereinigten Königreichs blieb in mehreren Reformschritten kaum ein Stein auf dem anderen. In der aktuellen Diskussion um die Zukunft der Altersvorsorge in Deutschland sehen manche in der höheren Flexibilität und der stärkeren Kapitalmarktorientierung des britischen Systems ein Vorbild für Deutschland. Die Ausgangslagen in beiden Ländern sind allerdings grundverschieden.

Die gesetzliche Rente in Großbritannien ist kaum mehr als ein Notgroschen

Auf den ersten Blick sieht noch alles recht ähnlich aus: Wie in Deutschland basiert das Rentensystem in Großbritannien auf drei Säulen: der staatlichen Rente, der betrieblichen Altersversorgung und der privaten Altersvorsorge. Doch schon der Ansatz, mit dem der britische Sozialreformer William Beveridge 1942 seine Aufgabe anging, die Rentenversicherung des Vereinigten Königreichs zu modernisieren, unterscheidet sich deutlich von der deutschen Herangehensweise. Beveridges Ziel war, die Menschen vor Altersarmut zu schützen – nicht die Sicherung des Lebensstandards im Alter wie im bundesrepublikanischen Modell. Bis heute ist die gesetzliche Rente für die Briten daher eher eine Art Notgroschen, nicht die zentrale Basis des Lebensunterhalts. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider: Die maximale Rentenhöhe in Großbritannien beträgt knapp 180 Pfund (210 Euro) pro Woche. 2017 gab der Staat laut OECD 5,6 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Rentenzahlungen aus, in Deutschland waren es im Vergleichsjahr 10,2 Prozent. Wie hierzulande setzt der demografische Wandel auch die britische State Pension unter Druck: Dem nationalen Statistikamt zufolge wird die Zahl der Rentenberechtigten bis 2042 von 12,4 Millionen auf 16,9 Millionen ansteigen. 2016 beschloss die Regierung daher, das Pensionsalter schrittweise von 65 auf 68 Jahre anzuheben. Die letzte Stufe soll spätestens 2046 erreicht sein, derzeit wird jedoch geprüft, ob der Zeitrahmen weiter nach vorne verschoben wird.

Jeder Beschäftigte wird automatisch Mitglied im Betriebsrentensystem – es sei denn, er widerspricht

Das Prinzip der Eigenverantwortung spielte im marktwirtschaftlich geprägten Britannien von jeher eine wichtige Rolle. Auch aufgrund der zahlreichen Altersvorsorgeprodukte hat das Land den größten Versicherungsmarkt Europas und den viertgrößten weltweit. In den 1990er-Jahren wurde jedoch zunehmend deutlich, dass die Angebote für Privat- und Betriebsrenten einen großen Teil der Erwerbstätigen nicht erreichten, die wachsende Altersarmut wurde zu einem der wichtigsten sozialpolitischen Themen. Etwa zeitgleich zur Einführung der Riester-Rente in Deutschland nahm im Vereinigten Königreich die „Stakeholder Pension“ Gestalt an. Sie folgte einem ähnlichen Konzept wie Riester und zielte auf Menschen mit geringem bis mittlerem Einkommen – setzte sich aber anders als ihr deutsches Pendant nie durch. Mit rund zwei Millionen Policen fristet sie bis heute ein Nischendasein. Zum Vergleich: Die Zahl der Riester-Verträge lag Ende 2020 bei rund 16,4 Millionen.

Den wohl größten Reformschritt wagten die Briten bei der betrieblichen Altersvorsorge. Statt weiterhin auf Freiwilligkeit zu setzen, führte die Regierung einen Mechanismus ein, der sich „Automatic Enrolment“ nennt: Jeder Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen von 10.000 Pfund oder mehr nimmt automatisch an einer Entgeltumwandlung teil, es sei denn, er widerspricht aktiv (Opt-out-Regelung). Vier Prozent des Bruttoeinkommens fließen so in eine Betriebsrente, der verpflichtende Arbeitgeberanteil liegt bei zusätzlichen drei Prozent, ein weiteres Prozent steuert der Staat über Steuererleichterungen bei. „Die Wirkung dieser Reform war außerordentlich weitreichend“, sagt Yvonne Braun vom Versicherungsverband Association of British Insurers (ABI). So wurden laut einer Zwischenbilanz für das britische Unterhaus vom Februar 2021 im Zeitraum von 2012 bis 2019 mehr als 10,2 Millionen Arbeitnehmer über das „Automatic Enrolment“ neu in das Betriebsrentensystem integriert. Die Zahl der Verträge stieg von 2,1 auf 21 Millionen, wobei ein Arbeitnehmer mehrere Betriebsrenten haben kann, etwa weil er den Arbeitsplatz gewechselt hat. Den Großteil des Zuwachses machten genau jene Arbeitnehmer aus, die bisher durch die Lücken des Systems gerutscht waren: junge Berufstätige, Geringverdiener sowie Menschen, die einen beruflichen Neustart hinter sich hatten.

Gegen die Einführung von NEST gab es große wettbewerbsrechtliche Bedenken

Alle Arbeitgeber in Großbritannien sind seit der Reform verpflichtet, ihren Beschäftigten ein Betriebsrentenmodell anzubieten, entweder über eine firmeneigene Pensionskasse oder über einen Vertrag mit einem privaten Anbieter wie The Lewis Workplace Pension Trust (TLWPT), Standard Life oder True Potential Investor. Für kleine und mittlere Unternehmen gibt es eine weitere Alternative, den National Employment Savings Trust, kurz: NEST. Die Institution war bei ihrer Einführung 2008 hochumstritten, handelt es sich doch um eine öffentlich-rechtliche Einrichtung, die die Betriebsrenten ihrer Mitglieder am Kapitalmarkt investiert und damit in Konkurrenz zu den privaten Versicherern tritt. In einer wettbewerbsrechtlichen Prüfung musste das damalige Noch-EU-Mitglied Großbritannien seinerzeit darlegen, warum ein Teil der betrieblichen Altersversorgung vom Staat organisiert werden sollte. Trotz erheblicher Bedenken winkten die Wettbewerbshüter das Modell schließlich durch, weil es letztlich nachrangig gegenüber privatwirtschaftlichen Lösungen ist. Heute wickeln 918.000 überwiegend kleine und mittelständische Arbeitgeber ihre Betriebsrentenprogramme über den nicht gewinnorientierten Trust ab, das verwaltete Vermögen lag 2020 bei rund 9,5 Milliarden Pfund, nach etwa 400 Millionen Pfund 2012. Angesichts dieser Zahlen wird das „Auto Enrolment“ auf der Insel als politischer und wirtschaftlicher Erfolg gewertet – obwohl die Mehrzahl der rund sechs Millionen britischen Mittelständler NEST nicht nutzt. Die Corona-Krise sei ein Stresstest gewesen, sagt NEST Manager Matthew Blakstad. Die Zahl derer, die ihre Beitragszahlungen ausgesetzt hätten – was aufgrund der Opt-out Regelung jederzeit möglich ist –, sei während der Pandemie nur leicht von rund acht auf elf Prozent angestiegen. Insgesamt jedoch habe das System „Standfestigkeit selbst in schwierigen Zeiten bewiesen.“

Geringverdiener und Selbstständige rutschen durch die Lücken des Systems

Die grundlegenden Probleme der britischen Altersvorsorge hat die Reform jedoch lediglich gemildert, nicht gelöst. Dem Bericht für das Unterhaus zufolge sind noch immer 12,2 Millionen Menschen im Land ohne ausreichende Altersversorgung – vor allem solche, die sich mit mehreren, schlecht bezahlten Jobs durchschlagen müssen und die Voraussetzungen für eine Betriebsrente nicht erfüllen. „Die Altersvorsorge von Geringverdienern und Teilzeitkräften ist ein Problem“, sagt Versicherungsexpertin Braun. Zwar gebe es den politischen Willen, dies in Zukunft zu ändern. „Aber bislang ist noch nichts passiert.“ Auch Selbstständige können bisher kaum am Betriebsrentensystem teilhaben, sie müssen sich aus eigenem Antrieb um ihre Altersvorsorge und eine private Rentenversicherung kümmern. Doch offenbar tun das immer weniger: Laut einer Untersuchung des Institute for Fiscal Studies vom Oktober 2020 verfügten 2018 nur noch 16 Prozent aller Selbstständigen über eine private Police – 1998 waren es noch bei 48 Prozent. Zugleich stieg im selben Zeitraum der Anteil der Selbstständigen an den Berufstätigen von 12,9 auf 15,1 Prozent.

NEST prüft derzeit, wie und unter welchen Umständen Selbstständige in das System einbezogen werden können, beispielsweise indem dafür steuerliche Anreize geschaffen werden. Eine zeitnahe Lösung ist allerdings nicht in Sicht. Kritiker bemängeln zudem, dass die Beiträge für die Betriebsrente in Zukunft für einen auskömmlichen Lebensstandard im Rentenalter nicht ausreichen werden und schlagen vor, die Beiträge aufzustocken. Damit müssten allerdings zwangsläufig auch die Arbeitnehmer mehr zahlen. Große öffentliche Begeisterung für diesen Ansatz ist daher nicht zu spüren. Sozialexperten weisen außerdem darauf hin, dass bereits heute mehr als zehn Millionen Briten wirtschaftlich auf wackligen Füßen stehen: Jeder zehnte Einwohner des Vereinten Königreichs verfügt über keinerlei finanzielle Rücklagen.

Hinzu kommt, dass sich Pensionäre in Großbritannien ihren „Pension Pot“ aus betrieblicher Rente und privater Vorsorge seit 2015 auch auf einen Schlag auszahlen lassen können, statt eine lebenslange regelmäßige Zahlung zu beziehen. Das birgt die Gefahr, dass manche, die sich für die Einmalzahlung entscheiden, die eigene Lebenserwartung unterschätzen, die Summe vorzeitig ausgeben und trotz Vorsorge in der Altersarmut enden. Und wie alle Rentensysteme weltweit kämpft auch das britische mit den Folgen der steigenden Lebenserwartung und der anhaltenden Niedrigzinsphase. Beide Entwicklungen zusammengenommen führen dazu, dass es sowohl für die staatlichen als auch für die privaten Altersvorsorgeprodukte zunehmend schwieriger wird, attraktive Renditen zu erwirtschaften – und das angesparte Kapital gleichzeitig für einen immer längeren Zeitraum reichen muss. In der Folge schrumpfen die Auszahlungen aus der Betriebsrente. So haben die Rentenreformen zwar dazu geführt, dass immer mehr Menschen eine betriebliche Altersversorgung haben – dass die Pensionszahlungen am Ende  ausreichen, um den Lebensstandard aus der Zeit des Berufslebens zu halten, ist jedoch keineswegs sicher. Ohne private Vorsorge und ein hohes Maß an Eigenverantwortung wird es also auch in Zukunft nicht gehen. So wie es traditionell immer schon war in Großbritannien.

Text: Nicola De Paoli
Illustration: Laurindo Feliciano

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