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Konjunktur & Märkte

Zweiter Schlag: EU-Austritt fordert Großbritanniens Versicherer heraus

Geschätzt 29 Millionen Policen haben britische Versicherer seit der Brexit-Entscheidung ins EU-Ausland übertragen. Langfristig wollen sie sogar Marktanteile gewinnen – egal, wie das Geschacher um die künftige Bindung Großbritanniens an die EU ausgeht.

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© twotype design

Fahne hoch zum Abbruch vom europäischen Kliff: Die Briten glauben, auch ohne die EU gut zurecht zu kommen.

Die Schiffsglocke ist das Einzige, was von der Fregatte „Lutine“ übrigblieb, die 1799 in der Nordsee versank. Mit Mann und Maus und angeblich einem großen Goldschatz. Seit Jahr und Tag hängt die „Lutine Bell“ in der Zentrale von Lloyd's of London, als Symbol für die Widerstandsfähigkeit und Finanzkraft der weltgrößten Versicherungsbörse. Geläutet wird bei besonderen Ereignissen: ein Schlag für schlechte Nachrichten, zwei Schläge für gute.

Lloyd's zahlte, als die „Titanic“ unterging, ebenso beim Erdbeben von San Francisco 1906. Es folgten Wirbelstürme, Terroranschläge, Tsunamis. Nichts, was die britischen Versicherer im Laufe ihrer langen Geschichte nicht schon erlebt und bewältigt hätten, möchte man meinen. Doch was nach der Brexit-Entscheidung vom 23. Juni 2016 auf sie zukam, hatte selbst die an Katastrophen gewöhnte Branche bisher nicht erlebt. Nicht nur Lloyd's, der gesamte Industriezweig muss sich umstellen, seit klar ist, dass Großbritannien die Europäische Union verlässt. Zum Jahresende 2020 laufen die bestehenden Übergangsregelungen aus, EU-Recht und alte Gewissheiten gelten dann nicht mehr. „Der Zugang zum EU-Markt war jahrzehntelang die Norm“, sagt Laura Scarpa vom Beratungshaus Deloitte in London. „Die Branche steht vor großen Herausforderungen.“ 

Mit einem Beitragsvolumen von umgerechnet rund 307 Milliarden Euro (2019) und einem Weltmarktanteil von 5,8 Prozent ist Großbritannien nach Berechnungen des Swiss Re Institute der größte Versicherungsmarkt Europas und die Nummer vier weltweit – hinter den USA, China und Japan. Britische Versicherer beschäftigen mehr als 320.000 Mitarbeiter und tragen pro Jahr rund 34 Milliarden Pfund zur britischen Wirtschaftsleistung bei. Dieser Erfolg beruht nicht zuletzt auf dem freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Wie für alle in der EU beheimateten Versicherer galt für die britischen bislang das Prinzip des einheitlichen europäischen Passes: Ist ein Anbieter in einem EU-Staat zugelassen, kann er in allen anderen Mitgliedsländern Geschäfte betreiben. Unter diesen Vorzeichen entwickelte sich das Vereinigte Königreich zu einem der größten Exporteure für Versicherungsdienstleistungen. Das Exportvolumen betrug zuletzt umgerechnet mehr als 16 Milliarden Euro – ein Wert, an den selbst die USA, die weltweite Nummer eins im Versicherungsgeschäft, mit 14,7 Milliarden Euro (2016) nicht heranreichen. Knapp 30 Prozent ihres Umsatzes erwirtschafteten in Großbritannien ansässige Versicherer oder die britischen Töchter internationaler Versicherungskonzerne zuletzt im EU-Ausland. 

35 britische Versicherer haben EU-Dependancen gegründet

Mit dem Brexit stand dieses Geschäft plötzlich infrage. Die Unternehmen waren gezwungen, ihre Geschäftsmodelle anzupassen. Und sie reagierten umgehend. „Die Versicherer haben einen erheblichen Aufwand betrieben, um sich auf das Ende der Übergangsperiode vorzubereiten“, sagt Carol Hall, Head of European and International Affairs beim Branchenverband Association of British Insurers (ABI) in London. So hätten 35 britische Gesellschaften Tochterfirmen in der EU gegründet, schätzungsweise 29 Millionen Versicherungsverträge wurden bereits in die neuen EU Dependancen überführt. Lloyd's etwa eröffnete eine Niederlassung in Brüssel, um den Zugang zum EU-Markt zu wahren. Der Autoversicherer Admiral führt sein Europageschäft jetzt aus Madrid, der Ferienhausversicherer Intasure wich nach Schweden aus. Die europäischen Kunden sollen von der Umstellung kaum etwas merken – das zumindest erwarten die britischen Versicherer. 

„Sie haben sich gut auf alle Eventualitäten vorbereitet und ihre Kunden umfassend über die Veränderungen informiert“, sagt Verbandssprecherin Hall. Für britische Kunden dagegen könnte der Übergang holprig werden: Sie können sich nicht darauf verlassen, dass ihre Autoversicherung im EU-Ausland noch gilt oder der bisherige Krankenversicherungsschutz im übrigen Europa weiter greift. Für die britischen Firmen verursachen die Brexit-Vorbereitungen zudem hohe Kosten. Der Aufbau einer parallelen Organisation innerhalb der EU-Grenzen, die auf mittlere Sicht auch noch einer anderen Regulierung unterliegt als die Muttergesellschaft, verschlingt hohe Summen, die für viele kleinere Anbieter kaum zu stemmen sind oder sich nicht lohnen. Einige britische Versicherer haben sich daher zum Rückzug entschlossen und sich von ihren Bestandsverträgen mit EU-Kunden getrennt.

Eine nationale britische Regulierung existiert noch nicht

Davon profitieren Spezialanbieter wie die Deutsche Versicherungs- und Rückversicherungs-AG (Darag), die sich auf die Übernahme solcher Altverträge spezialisiert hat. So kündigte die Darag im vergangenen Jahr die Übernahme des britischen Wettbewerbers The Underwriter an, um für das zu erwartende Geschäft gerüstet zu sein. Noch ist unklar, wie der britische Versicherungsmarkt künftig aussehen wird. Sicher ist: Der EU-Standard Solvency II wird durch eine britische Regelung ersetzt, die zunächst die bisherigen Vorschriften enthält. Bis zum 19. Januar 2021 können Firmen und Verbände Vorschläge für die künftige Regulierung beim Finanzministerium in London einreichen. 

Dass es zu einem großen Bruch kommt, erwarten Branchenkenner nicht. Die EU-Regularien seien zu umfassend in britisches Recht überführt worden, als dass daran kurzfristig etwas zu ändern wäre, sagt Deloitte-Expertin Scarpa: „Der überwiegende Teil der EU-Gesetzgebung wird uns noch eine Weile begleiten.“ Auch hätten die Konzerne wenig Interesse, schnell unterschiedliche Standards einzuführen und so Geschäfte zwischen der EU und Großbritannien zusätzlich zu verkomplizieren. Langfristig allerdings dürften die Standards auseinanderdriften. „Der Umstand, dass Großbritannien nicht mehr an die EU gebunden ist, eröffnet den Spielraum, die Regulierung anzupassen und für den britischen Markt maßzuschneidern“, sagt Peter Thomas vom Beratungsunternehmen PwC in London. Ein Diskussionspunkt wird sein, ob und wie sich die Rechnungslegung vereinfachen lässt. Deutsche und andere europäische Versicherer befürchten daher, dass ihnen durch eine weniger strenge Regulierung und Besteuerung ihrer britischen Konkurrenten Wettbewerbsnachteile im außereuropäischen Geschäft entstehen könnten.

Britische Versicherer hoffen auch auf Vorteile durch den EU-Austritt

Nach mehr als vier Jahren Vorbereitungszeit schaut das Gros der britischen Anbieter eher nach vorn als zurück. „Die überwiegende Mehrheit hat die Zeit gut genutzt“, sagt Deloitte-Beraterin Scarpa. Innovative Produkte und neue Tech-Anwendungen sollen das Wachstum vorantreiben. Lloyd's of London unterhält etwa das Lloyd's
Lab. In diesem Versuchslabor können Insurtechs ihre digitalen Lösungen für die Versicherungsbranche ausprobieren. Branchenkenner erwarten darüber hinaus auch positive Brexit-Effekte. So könnten britische Anbieter zusätzliches Neugeschäft generieren. Schließlich hinterlassen jene EU Versicherer Lücken, die sich vom britischen Markt zurückziehen, weil sie den doppelten Verwaltungsaufwand scheuen. „Für einige EU-Marktteilnehmer mag das Geschäft nicht länger praktikabel sein. Das könnte größere Marktanteile und Übernahmechancen für Anbieter mit einem stärkeren Standbein in Großbritannien eröffnen, sagt PwC-Direktor Thomas. Ferner könnten sich die neuen EU-Ableger als Türöffner für weiteres Neugeschäft in Madrid, Brüssel oder Frankfurt erweisen. 

„Unser Platz ist an der Spitze der Flottille“, sagte der neue Lloyd's-Chef John Neal bei seiner Antrittsrede 2019. Er und seine Kollegen werden alles dafür tun, dass es auch in Nach-Brexit-Zeiten gute Gründe gibt, die „Lutine Bell“ zweimal schlagen zu hören.

Text: Nicola De Paoli