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Nachhaltigkeit

Grüner, schneller, weiter – wie Ver­si­che­rer den Umbau Euro­pas mit­ge­stal­ten kön­nen

Nationale Alleingänge bieten keine Lösungen. Corona hat dies überdeutlich gemacht. Nun folgen neue Herausforderungen: Klimaschutz, effizientere Kapitalmärkte, Steuern, zeitgemäße Regeln für Digitalisierung und Aufsicht. Die EU-Kommission stellt die Weichen für den milliardenschweren Green-Deal – und die Assekuranz ist naheliegender Partner.

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Liebe in Zeiten der Pandemie: Kanzlerin Angela Merkel und Bulgariens Ministerpräsident Bojko Borissow üben in der Krise neue Umgangsformen.

Wenn EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen über die Zukunft sinniert, fallen Sätze wie dieser: „Ich will, dass Europa noch mehr erreicht, indem es zum ersten klimaneutralen Kontinent wird.“ Wenn Jörg Asmussen von der Zukunft spricht, hört sich das ähnlich an: „Wir werden nachhaltiger werden“, sagt der Geschäftsführer des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Und meint damit eigentlich seine Branche. Und doch gehört beides eng zusammen: die Zukunft Europas und die der Versicherer. Denn das Programm, das von der Leyen der Staatengemeinschaft verordnet hat, bedeutet eine Zäsur, die weit mehr umfasst, als der ökologisch klingende Titel „Green Deal“ vermuten lässt.

Um Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen, sollen Energieversorgung, Industrie, Verkehr und Landwirtschaft komplett umgekrempelt werden: weg von fossilen Energien und Umweltverschmutzung hin zu Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Das hat Folgen, die weit über die Realwirtschaft hinausreichen: Auch die Finanzmärkte mitsamt den Kapitalströmen müssen neu ausgerichtet werden. Einheitliche Regeln und mehr Transparenz sind nötig, einschließlich einer Übereinkunft darüber, wie in einer zunehmend von Daten und Künstlicher Intelligenz bestimmten Welt, digitale Finanztransaktionen und Vermögenswerte europaweit rechtssicher gemacht werden können.

Internationale Großrisiken sind nicht mithilfe nationaler Alleingänge zu lösen

Wie notwendig, ja überlebenswichtig eine grenzüberschreitende Kooperation ist, hat die Corona-Pandemie gezeigt. Der Rückfall in überwunden geglaubte Nationalismen, der in einseitigen Grenzschließungen, Exportverboten für Schutzausrüstung und gegenseitigen Schuldzuweisungen gipfelte, hat den Kampf gegen die Seuche erschwert. Wie schon bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zeigte Europa sich von seiner schwachen, streitsüchtigen Seite. Und das, obwohl allen Beteiligten klar war, dass Viren nicht an Schlagbäumen haltmachen und internationale Großrisiken nicht mithilfe nationaler Alleingänge zu bewältigen sind. Da geht es Regierungen nicht anders als der Versicherungswirtschaft.

Die Folgen des Green Deal reichen über die Realwirtschaft hinaus. Auch die Finanzmärkte müssen neu ausgerichtet werden

Der Green Deal ist ein Signal, dass Europa nach diesen Erfahrungen wieder enger zusammenrückt. International wurde das Vorhaben anerkennend bis bewundernd interpretiert, als Zeichen von Geschlossenheit und Stärke. Doch so ambitioniert die Pläne sind, so gewaltig sind die Kosten. Rund eine Billion Euro will die EU-Kommission in den kommenden zehn Jahren mobilisieren. Die Hälfte soll aus dem eigenen Haushalt stammen, der auf dem Brüsseler EU-Gipfel bewilligt wurde. Hinzu kommen nationale Gelder und Sondermittel für die am stärksten von den ökonomischen Folgen der Pandemie betroffenen Regionen. „Öffentliche Gelder reichen allein aber nicht aus“, sagt von der Leyen. Sie will zusätzlich private Geldgeber in ihr Jahrhundertprojekt einbinden. Rund 280 Milliarden Euro erhofft sie sich von ihnen.

Die Assekuranz ist ein sehr naheliegender Partner: „Versicherer spielen eine Schlüsselrolle in der Wirtschaft: als Risikoträger und langfristiger Investor“, betont GDV-Geschäftsführer Asmussen. Und in beiden Rollen könnten die Unternehmen die grüne Erneuerung Europas maßgeblich mitgestalten. Rund 1,5 Billionen Euro umfasst allein der Kapitalanlagebestand der Erstversicherer, bei Neuinvestitionen berücksichtigen viele bereits heute Nachhaltigkeitskriterien wie Umweltschutz, soziale Aspekte und gute Unternehmensführung (Environmental, Social, Good Governance; ESG). Schon aus Eigennutz. Denn die Klimakrise führt zur Entwertung von Investitionen und bedroht langfristig das Geschäftsmodell der Versicherer. Sollten die Klimaveränderungen ungebremst voranschreiten, könnten Naturkatastrophen in der heutigen Form eines Tages nicht mehr versicherbar sein. „Wir sollten mehr tun, und wir werden mehr tun“, sagt Asmussen.

Versicherungsunternehmen werden zu Öko-Paten ihrer Kunden

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Vermummt, aber politisch korrekt: David Sassoli, Präsident des Europäischen Parlaments, beim Brüsseler EU-Gipfel

Dass die Branche von Politik und Aufsicht in Zukunft auch stärker in die Pflicht genommen werden wird, zeichnet sich bereits bei der laufenden Revision von Solvency II ab, dem europäischen Aufsichtsregime für Versicherer. Die EU-Kommission will die ohnehin anstehende Überarbeitung des Regelwerks nutzen, um darin erstmals Nachhaltigkeitsaspekte zu verankern. So sollen Versicherer künftig Klimarisiken schon bei der Zeichnungspolitik, dem sogenannten Underwriting, berücksichtigen. Das könnte bedeuten, dass die Unternehmen ihre Kunden an die Hand nehmen, um gemeinsam Strategien für nachhaltiges Wirtschaften zu entwickeln. Versicherer als Öko-Paten gewissermaßen. Auch ihr Risikomanagement und ihre Kapitalanlage sollen Versicherer stärker auf Umweltaspekte ausrichten. Doch dafür brauche es die richtigen Anreize, betont Asmussen. So ist es für die Assekuranz von großer Bedeutung, dass eine Neufassung von Solvency II langfristige Investitionen nicht zusätzlich erschwert. Viel hängt etwa davon ab, wie künftig der Langfristzins modelliert wird, mit dem Lebensversicherer den Wert ihrer Verpflichtungen ansetzen. Je niedriger er ist, desto höhere Rückstellungen müssen die Unternehmen bilden – und desto weniger Eigenmittel bleiben ihnen für Investitionen eben auch in nachhaltige Anlagen.

Saubere Industrien sind nicht per se sichere Häfen für das Kapital der Versicherten 

Versicherer hoffen zudem auf einen wirksameren Bewertungspuffer (Volatility Adjustment), der es ihnen ermöglicht, kurzfristige Wertschwankungen in der Solvenzbilanz abzufedern. Als langfristige Investoren mit einem Anlagehorizont von 20 und mehr Jahren können sie Übertreibungen an den Finanzmärkten gut aussitzen. Eine Stärke, die kaum eine andere Investorengruppe vorweisen kann und die speziell  Lebensversicherer als Partner des ökologischen Umbaus prädestiniert. Denn nachhaltige Infrastruktur- oder Energieprojekte sind tendenziell langfristig angelegt und häufig weniger liquide als andere Anlageklassen. Beim Kampf gegen die Klimakrise sollte die EU aus Sicht der Versicherer noch ambitionierter werden. Statt sich auf Maßnahmen zur Begrenzung der Erderwärmung zu beschränken, etwa durch die Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen, fordert der europäische Dachverband Insurance Europe von der Politik mehr Maßnahmen zur Schadenprävention und zur Anpassung an die Folgen der Effekte, die schon jetzt nicht mehr abwendbar seien. „Der Klimawandel manifestiert sich bereits in zunehmend schadenträchtigen Naturereignissen“, so der Verband in seiner Stellungnahme zum Green Deal. „Eine ausgewogene Balance zwischen Schadenbegrenzung und Anpassung muss gefunden werden.“

Eine pauschale Bevorzugung grüner Anlagen, etwa in Form einer niedrigeren Eigenkapitalunterlegung, lehnt die Branche dagegen ab: „Dies stünde im Widerspruch zum risikobasierten Ansatz von Solvency II“, argumentiert GDV-Geschäftsführer Asmussen. Eine Position, die von der deutschen Finanzaufsicht BaFin geteilt wird. „Wer diesen Weg beschreitet, wählt den Weg in die nächste Krise und schadet der Nachhaltigkeit“, warnt Behördenchef Felix Hufeld. Der Niedergang der europäischen Solarhersteller gilt als mahnendes Beispiel, das auch  saubere Industrien hohe Risiken bergen können und daher nicht per se ein sicherer Hafen für das Kapital der Versicherten sind. Die EU-Kommission erwägt dennoch, entsprechende Vergünstigungen für grüne Investments einzuführen. „Es ist ein Thema, über das wir nachdenken und das wir genau bewerten“, sagt Didier Millerot, innerhalb der Kommission zuständig für Versicherungen. Bis Ende des Jahres soll eine Entscheidung fallen. 

Beim Kampf gegen den Klimawandel sollte Europa noch ambitionierter werden

Daneben hat Brüssel viele weitere Hausaufgaben zu erledigen, etwa die Klassifikation nachhaltiger Kapitalanlagen, im Fachjargon Taxonomie genannt. Damit Versicherer ihr Engagement in nachhaltige Anlagen ausbauen können, muss nämlich geklärt sein, welche Investments überhaupt dazugehören. Dafür werden Kriterien benötigt, vergleichbar mit der Kennzeichnung von Lebensmitteln. Bislang liegen allerdings erst für zwei der sechs formulierten Umweltziele – Klimaschutz und Klimaanpassung – konkrete Kriterienvorschläge vor, und auch hier nur für ausgewählte Sektoren. Diese sind zwar für den Großteil der CO2-Emissionen verantwortlich, stehen aber nur für knapp die Hälfte der Bruttowertschöpfung. Ende 2021 will die Kommission Vorschläge unterbreiten, wie die Taxonomie für die übrigen Sektoren angewandt werden kann. Bis dahin wird es auch dauern, bis auch zu den übrigen vier Umweltzielen Details vorliegen – wenn es denn beim bisherigen Zeitplan bleibt.

Für soziale oder Governance-Ziele sind Vorgaben noch gar nicht in Sicht. „Wir befassen uns erst mit dem E von ESG“, stellt Asmussen fest. Für die Versicherer ist die Verzögerung ärgerlich. Asmussen mahnt daher zur Eile und fordert eine unbürokratische Lösung. Und eine, die langfristig in einen internationalen Standard münden könnte, schließlich seien die Finanzströme global: „Asiatische Investoren achten sehr genau darauf, wie Europa mit den ESG-Kriterien umgeht.“ Bislang stoßen Investoren selbst innerhalb Europas auf Hindernisse: „Wir haben zwar große Ersparnisse. Was wir aber nicht haben, ist ein einheitlicher Finanzmarkt“, bemängelt Sylvie Goulard, Vizegouverneurin der Banque de France. Verschiedene Insolvenzregeln, abweichende Gläubigerrechte und eine uneinheitliche Datenbasis bei finanziellen und nicht finanziellen Kennzahlen behindern den innereuropäischen Geldfluss. Eine Vertiefung des Kapitalbinnenmarkts könnte viel bewirken: Grenzüberschreitende Investitionen würden erleichtert, mittelständische Firmen bekämen neue Geldquellen abseits der Banken und auch für langfristige Infrastruktur- und Umweltprojekte stünden mehr Kapitalgeber bereit. Die angestrebte Kapitalmarktunion müsse daher schneller vorankommen, sagt Goulard.

Ein einheitlicher europäischer Kapitalmarkt hilft, private Investitionen zu mobilisieren

Corona könnte nun dafür sorgen. EU-Kommissions-Exekutiv-Vize Valdis Dombrovskis hat die Kapitalmarktunion zu einem Schlüsselprojekt ausgerufen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bekommen. Im Juni hatte eine hochrangige Expertengruppe nach sechsmonatiger Arbeit Vorschläge gemacht, etwa eine Harmonisierung des Insolvenzrechts. Am 24. September hat Dombrovskis nun seine finalen Vorschläge für den nächsten Aktionsplan veröffentlicht. „Der Aktionsplan ist ein wichtiger Impuls für die Vollendung des europäischen Binnenmarktes“, kommentiert GDV-Geschäftsführer Asmussen. „Die Vorschläge der EU-Kommission erleichtern institutionellen Anlegern wie den Versicherern grenzüberschreitende Investitionen und erschließen kleinen und mittleren Unternehmen neue Finanzierungsquellen. Die Umsetzung des Aktionsplans wird die europäische Wirtschaft langfristig digitaler und nachhaltiger machen, kurzfristig erleichtert sie die Erholung nach der Covid-19-Krise.“

Begünstigt werden schnelle Fortschritte bei der Kapitalmarktunion durch die voranschreitende Digitalisierung. Ein Gesetzentwurf von Bundesjustiz- und Bundesfinanzministerium sieht vor, dass Wertpapiere dank der Blockchain-Technologie künftig ganz ohne Papier auskommen können. Den Anfang soll die digitale Schuldverschreibung machen, die in einem elektronischen Register geführt wird. Eigentümer eines „Digital Assets“ wären damit erstmals genauso  gesetzlich geschützt wie die Besitzer gedruckter Wertpapiere. 

In weiteren Schritten sollen digitale Aktien und Fondsanteile möglich werden. Dadurch ließen sich grenzüberschreitende Wertpapiertransaktionen schneller und günstiger abwickeln. Mit der Vertiefung des Kapitalmarkts würden sich die Investitionsmöglichkeiten für die deutschen Versicherer erheblich erweitern. Bislang steht auch das knappe Angebot an geeigneten Projekten einem größeren Engagement im Weg. Zusätzlichen Schub erhofft sich die Assekuranz von der geplanten Ausweitung des europaweiten Emissionshandels: Wenn die Firmen erst einmal Klarheit haben über Zeitrahmen und Höhe der CO2-Bepreisung, erhalten sie zugleich Planungssicherheit für Investitionen in Projekte, die Emissionen einsparen. Von der Leyen hat bereits versprochen, den Emissionshandel für die Luftfahrt teurer zu machen und ihn auf die Schifffahrt, den Straßenverkehr und den Bausektor auszudehnen.

Um privates Kapital zu mobilisieren, will die EU erneut eine Projektplattform einrichten und Beratungsangebote für Projektträger und Investoren anbieten, wie sie es bereits beim Juncker-Plan getan hatte, um die Folgen der Finanzkrise zu mildern. Als wirksames Mittel hatten sich seinerzeit auch öffentliche Bürgschaften erwiesen. Die Europäische Investitionsbank motivierte private Geldgeber, indem sie ihnen einen Teil des Ausfallrisikos abnahm. Für die Assekuranz wäre dieses Mittel auch jetzt geeignet, um grüne Investitionen anzuschieben. Um auch eher kleinere, kommunale Projekte für Großinvestoren attraktiv zu machen, könnten die Vorhaben zudem in Fonds gebündelt werden. Das sparte Kosten und würde vor allem kleinere Versicherer unterstützen, die nicht über die Ressourcen verfügen, um viele Einzelprojekte zu managen.

Denn wie hatte von der Leyen betont? Beim Green Deal soll niemand auf der Strecke bleiben. Es war eine Botschaft, die an die am stärksten vom Umbruch betroffenen Regionen und Branchen gerichtet war. Die sich aber auch als Hinweis an die Versicherer deuten lässt.

Text: Karsten Röbisch, Hendrik Roggenkamp, Claus Gorgs