Freizeitforscher Ulrich Reinhardt beobachtet einen neuen Trend: JOMO – Joy of missing out.
Verunsicherung und Frust prägen den zweiten Corona-Winter, langfristig könnte die Pandemie aber sogar zu mehr Lebensqualität führen, sagt Ulrich Reinhardt. In seinen Studien beobachtet der Freizeitforscher, dass sich viele Menschen wieder stärker auf das Wesentliche sowie ihre eigenen Bedürfnisse konzentrieren, statt jedem aktuellen Trend hinterherzulaufen. Das wiederum ist nicht für jeden eine gute Nachricht.
Herr Prof. Reinhardt, die Corona-Lage ist wieder angespannt, die Zeit der relativen Freiheiten und des unbeschwerten Konsums fürs Erste vorbei. Was macht das mit den Menschen?
Ulrich Reinhardt: Verunsicherung, Angst und Frust nehmen zu. Viele wissen nicht mehr, was gerade wo erlaubt ist und was nicht. Zudem steigt auch die Angst vor dem Virus wieder. Breite Bevölkerungsgruppen waren zuversichtlich, dass die Pandemie mehr oder weniger überstanden ist, und stehen jetzt neuen Mutationen und steigenden Infektionszahlen mit Sorge gegenüber. Das Verständnis von Geimpften für Ungeimpfte nimmt ab, gleichzeitig nimmt der Ärger über eigene Einschränkungen zu. Die Ungeimpften sind ebenso frustriert, weil ihre eigene Sichtweise immer weniger akzeptiert und toleriert wird. Die Gefahr ist groß, dass all diese Auswirkungen die Spaltung innerhalb der Gesellschaft vergrößert und Freunde, Kollegen, Nachbarn und Familien sich voneinander entfernen.
Erwarten Sie dauerhafte Verhaltensänderungen, speziell in der Freizeit?
UR: In jedem Fall. Die Leute denken mehr darüber nach, was ihnen wirklich wichtig ist. Freizeit beruht ja grundsätzlich auf Freiwilligkeit: Ich kann tun oder lassen, was ich will. Zuletzt ist jedoch die Kluft zwischen dem, was die Menschen in ihrer Freizeit am liebsten machen, und dem, was sie tatsächlich tun, immer weiter auseinander gegangen. Viele geben an, sie wünschten sich mehr Zeit für Freunde, Sport oder zum Ausruhen, verbringen aber in Wirklichkeit viel Zeit online oder springen von Highlight zu Highlight – aus Angst, etwas zu verpassen. Hierfür gibt es auch einen Begriff: FOMO – Fear of missing out.
Und dank Corona ist jetzt Schluss mit dem Freizeitstress?
UR: Wir beobachten tatsächlich einen neuen Trend: JOMO – Joy of missing out. Corona hat bei einigen den Reset-Knopf gedrückt. Sie wollen das Leben wieder mehr genießen und „müssen“ nicht mehr überall dabei sein. Der Grundsatz, eine Sache zu einer Zeit zu tun, erlebt eine Renaissance. Also entweder Freunde treffen oder ins Restaurant gehen, Fernsehen oder telefonieren. Letzteres auch gern mal länger als zwei Stunden am Stück.
Beim Blick in die Cafés, Fußgängerzonen und Fußballstadien im Sommer bekam man einen anderen Eindruck.
UR: Freizeit ist immer auch eine Frage der Möglichkeiten. Wäre das Angebot wieder bei 100 Prozent dessen, was vor Corona möglich war, würden wahrscheinlich drei von vier Bürgern wieder so agieren wie vorher. Und das ist natürlich auch völlig okay. Würden alle auf Dauer nur zu Hause bleiben, wäre das eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe. Aber die Entscheidung, wie sie ihre knappe Zeit einsetzen, treffen viele eben deutlich bewusster.
Allensbach-Umfrage "Generation Mitte"
Mehr Optimismus trotz Corona - Vielen erscheint Klimawandel als ferne Bedrohung
Das ergab eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Das ist zwar noch weit entfernt vom Niveau vor der Corona-Pandemie, aber doch deutlich mehr als im vergangenen Jahr mit lediglich 22 Prozent.
Corona hinterlässt deutliche Spuren in der Gemütsverfassung der „Generation Mitte“
Insgesamt hat die Corona-Krise deutliche Spuren in der Gemütsverfassung der von Allensbach befragten mittleren Generation hinterlassen. Zwar ist sie bisher materiell überwiegend gut durch die Pandemie gekommen. Die Menschen fühlen sich allerdings zunehmend gestresst, wie die Umfrage ergab. Noch im vergangenen Jahr hatte sich lediglich jeder Dritte häufig gestresst gefühlt, jetzt liegt der Anteil bei 39 Prozent.
In Folge der Impfungen sind die Sorgen, sich persönlich zu infizieren, zurückgegangen. Eltern aus der Generation Mitte machen sich zurzeit jedoch große Sorgen, dass sich die eigenen Kinder mit dem Virus infizieren könnten.
Zu Verunsicherung führt auch der zunehmende Druck auf den Geldbeutel. Das seit Anfang des Jahres stark steigende Preisniveau insbesondere für Energie und Lebensmittel sowie die Erwartung von steigenden Steuern oder Abgaben gehören zu den größten Sorgen der mittleren Generation. Zwei Drittel von ihnen belasten die steigenden Preise stark.
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Vorstellung der Allensbach-Umfrage zur „Generation Mitte“
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„Die vierte Corona-Welle trifft die ‚Generation Mitte‘ genau wie die Politik in ihrer enormen Intensität unerwartet“, sagte die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, Renate Köcher, am Mittwoch in Berlin. „Die Pandemie und die stark steigenden Preise belasten die Menschen und ziehen zurzeit auch die Aufmerksamkeit von den großen langfristigen Herausforderungen ab wie beispielsweise der Bewältigung des Klimawandels.“
Neue Bundesregierung erzeugt (noch) keine Aufbruchstimmung
Mit Blick auf die künftige Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP kann die große Mehrheit der mittleren Generation bisher noch keine Aufbruchstimmung erkennen. Immerhin 40 Prozent sehen der neuen Bundesregierung jedoch mit Hoffnungen entgegen, 44 Prozent dagegen mit Skepsis oder sogar ausgeprägten Befürchtungen. Deutlich positiver fällt das Urteil derjenigen aus, die sich große Sorgen über den Klimawandel machen. Von ihnen blicken 54 Prozent der neuen Regierung mit Hoffnungen entgegen.
Was die Modernisierungs- und Digitalisierungspläne der Regierung angeht, ist die Mehrheit der mittleren Generation zurzeit noch skeptisch. „Lediglich jeder Fünfte rechnet damit, dass die Modernisierung des Landes rasch angepackt wird. Wohl unter anderem wegen des Corona-Krisenmanagements sehen die 30- bis 59-Jährigen beim Staat und seinen Institutionen im Vergleich zur Wirtschaft erhebliche Effizienzdefizite“, sagte der Hauptgeschäftsführer des GDV, Jörg Asmussen. Gleichzeitig hält die mittlere Generation eine Digitalisierung und Modernisierung für dringlich. „Auch bei der Digitalisierung geht es aus Sicht der ‚Generation Mitte‘ vor allem in vom Staat verantworteten Bereichen langsam voran.“ Das gelte insbesondere für die kommunale Verwaltung (78 Prozent), Schulen (76 Prozent) und Ämter und Behörden (73 Prozent).
Auch nach fast zwei Jahren Pandemie beurteilt die Mehrheit der Eltern die digitale Ausstattung der Schulen als unzureichend. Nur 30 Prozent der Eltern von Schulkindern ziehen die Bilanz, dass sich die digitale Ausstattung der Schulen im Laufe der Corona-Krise verbessert hat. „Die Schulen müssen so digital werden wie das Leben. Wir können es uns nicht leisten, dass unsere Kinder digitale Kompetenzen nur zu Hause erwerben – oder eben auch nicht“, sagte Asmussen.
Vielen erscheint der Klimawandel noch als ferne Bedrohung
In der politischen Agenda der mittleren Generation zählt Klimaschutz zwar zu den wichtigsten Aufgaben, die der neuen Bundesregierung zugewiesen werden. Große Sorgen über den Klimawandel macht sich zurzeit jedoch nur eine Minderheit von 42 Prozent. Das hat auch damit zu tun, dass der Klimawandel eher auf mittlere und längere Sicht als Gefahr empfunden wird. So fühlen sich nur 26 Prozent der mittleren Generation persönlich durch den Klimawandel und seine Auswirkungen bedroht, gleichzeitig sehen jedoch 69 Prozent eine Bedrohung für die nächste Generation, also die Generation der Kinder der mittleren Generation.
Die Flutkatastrophe dieses Jahres hat vielen jedoch deutlich gemacht, dass derartige Gefahren zunehmen. 76 Prozent der mittleren Generation gehen davon aus, dass es in Zukunft häufiger zu katastrophalen Überschwemmungen kommen wird wie im Sommer im Ahrtal. Die Ereignisse haben auch bewusst gemacht, dass Deutschland für solche Katastrophen unzureichend gerüstet ist. So fordern drei Viertel der mittleren Generation, dass Deutschland in diesem Bereich nachrüsten muss.
Das gilt auch für die Information der Bürger. Gerade Personen aus Risikogebieten fühlen sich unzureichend über mögliche Naturgefahren in ihrer eigenen Region und deren mögliche Folgen informiert.
„Die Umfrage zeigt, dass wir alle bei dem Thema mehr tun müssen – Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Ganz praktisch heißt das zum Beispiel, beim Wiederaufbau im Ahrtal den gleichen Fehler kein zweites Mal zu machen und nicht erneut in hochwassergefährdeten Gebieten zu bauen“, sagte Asmussen.
Über die „Generation Mitte“
Die mehr als 35 Millionen 30- bis 59-Jährigen in Deutschland stehen mitten im Berufsleben, erziehen Kinder und finanzieren die sozialen Sicherungssysteme. Sie stellen 70 Prozent der Erwerbstätigen dar und erwirtschaften über 80 Prozent der steuerpflichtigen Einkünfte. Die „Generation Mitte“ ist damit im wahrsten Sinne des Wortes der „Leistungsträger“ unserer Gesellschaft.
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft beauftragt das Institut für Demoskopie Allensbach seit 2013, dieser breiten Bevölkerungsschicht einmal jährlich den Puls zu fühlen und ihre Einstellungen, Erwartungen und Ängste zu erforschen. Für die repräsentative Untersuchung Generation Mitte 2021 haben die Demoskopen in der ersten Novemberhälfte 2021 insgesamt 1.055 Männer und Frauen im Alter zwischen 30 und 59 Jahren befragt.
Welche Branchen werden von den Verschiebungen, die Sie erwarten, am stärksten betroffen sein?
UR: Die Pandemie hat die Digitalisierung des Lebens beschleunigt. Das stellt zum Beispiel viele Kulturschaffende vor Herausforderungen: Theater, Museen, Kinos. Streaming und digitale Angebote haben sich als durchaus attraktive Alternativen erwiesen. Hier sind neue Konzepte notwendig, sonst wird es schwer. Auch der Tourismus wird sich verändern, der Anteil der Inlandsreisen wird weiter zunehmen und die Bedeutung von Natur und Erholung eine Renaissance erleben.
Was kommt auf den Handel zu?
UR: Wenn die Lage es wieder erlaubt, werden viele Kunden wieder in die Läden stürmen. Einfach, weil es wieder möglich ist und sie dort mit allen Sinnen konsumieren können. Die Gefahr ist allerdings groß, dass dieser Boom nur kurz anhält, da die Geschäfte vor Ort bei Preis und Auswahl nur selten mit dem Onlineangebot mithalten können. Sie hätten die Zeit nutzen können, um neue Konzepte voranzutreiben, Beratungs- und Serviceangebote auszubauen. Ist das passiert? Von Einzelfällen abgesehen, leider nicht.
Gilt das auch für die Gastronomie?
UR: Wenn die Beschränkungen fallen, wird es auch hier einen Run geben, langfristig mache ich ebenfalls ein Fragezeichen. Es wird nach der Pandemie mehr Homeoffice und weniger Dienstreisen geben, so manches Business-Lunch fällt da weg. Und im Privaten haben wir in den letzten Monaten die Annehmlichkeiten eines gelieferten Essens zu schätzen gelernt. Auch die Lust, sich schick zu machen, um ins Restaurant zu gehen, hat nachgelassen. Wenn mein Lieblingsitaliener auch liefert, kann ich die Jogginghose anlassen. Ausgehen wird eine neue Qualität erhalten, es wird wieder besonders, weniger beliebig.
Zu Beginn der Pandemie erwarteten manche einen Trend zu nachhaltigerem Freizeitverhalten. Können Sie das bestätigen?
UR: Leider nicht. Nachhaltigkeit im Alltag ist einfach: Müll trennen, Stand-by-Modus ausschalten, Bioprodukte kaufen. In der Freizeit fällt dies deutlich schwerer. Die Lust auf einen Wochenendtrip ist weiterhin vorhanden, ebenso die Unlust, beim Genuss über Nachhaltigkeit nachzudenken. Freizeit ist etwas Besonderes, dazu passt kein schlechtes Gewissen.
Was bedeutet es für die Freizeit, wenn das Homeoffice Teil des Arbeitsalltags bleibt?
UR: Arbeit und Freizeit werden sich deutlich stärker vermischen. Vor der Pandemie haben sowohl Arbeitgeber als auch Gewerkschaften Homeoffice abgelehnt. Die einen hatten Angst vor dem Kontrollverlust und fürchteten, die Arbeitnehmer würden nur noch Kaffee trinken, statt zu arbeiten. Die anderen hatten Angst um die Work-Life-Balance der Beschäftigten. In der Pandemie haben plötzliche alle gemerkt: Es funktioniert! Die Arbeit wird erledigt – und oftmals sogar stressfreier.
Aber leidet nicht das Privatleben, wenn das Diensthandy ständig auf dem Küchentisch liegt?
UR: Wenn Homeoffice als permanente Verfügbarkeit interpretiert wird, stimmt das. Wenn es aber bedeutet, dass die Arbeit dann erledigt wird, wenn es passt, empfinden die Allermeisten das als sehr positiv. Man darf natürlich nicht vergessen, dass diese Option für viele Berufsgruppen gar nicht besteht. Hier droht eine Spaltung.
Sie meinen eine soziale Spaltung?
UR: Nein, dieser Riss läuft quer zu den sozialen Schichten: Ein Arzt oder eine Pilotin können ebenso wenig Homeoffice machen wie eine Kassiererin oder ein Maler. Es profitieren diejenigen, die digital und ortsunabhängig arbeiten können. Und natürlich all die Unternehmen und Agenturen, die jetzt weniger Bürofläche brauchen und dadurch Kosten sparen. Die soziale Spaltung hat Corona aber auch vertieft. Viele Bezieher niedriger Einkommen, Künstler und andere Solo-Selbstständige haben finanziell stärker gelitten als andere, das ist keine Frage.
Braucht es hier mehr staatliche Unterstützung?
UR: Der Staat kann und muss für gute Rahmenbedingungen sorgen, zentral aber ist die Frage, wie wir langfristig leben wollen. In der Pandemie haben viele Bürger darüber nachgedacht und zum Beispiel große Solidarität mit Geschäften vor Ort gezeigt. Ich bin daher zuversichtlich, dass der kleine Buchladen um die Ecke oder auch der Wochenmarkt überleben werden. Sie sind und bleiben den Menschen wichtig und tragen zur Lebensqualität bei. Am Ende werden nicht die Großen die Kleinen verdrängen, sondern die Attraktiven die Unattraktiven.
Was meinen Sie damit?
UR: Freie Zeit ist kostbar, und fast alle Menschen haben das Gefühl, zu wenig davon zu haben. Deshalb überlegen sie sehr genau, wo und wie sie ihre freie Zeit investieren. Am Ende steht die Frage: War es das wert? Wichtig wird dabei übrigens auch, die Zeit zu gestalten, die wir mit Warten, Anstehen oder zur Überbrückung von Distanzen verbringen. Die Innenstadt, die zum Flanieren und Verweilen einlädt oder der Freizeitpark, der die Wartezeit für die Fahrt mit der Achterbahn mit Information und Unterhaltungselementen gestaltet, werden erfolgreicher sein als diejenigen, bei denen nur die eigentliche Aktivität im Vordergrund steht.
Hat sich Ihr persönliches Sicherheitsbewusstsein durch die Pandemie verändert?
UR: Natürlich habe auch ich mir Gedanken gemacht, vor allem weil sich unsere Kinder lange Zeit nicht impfen lassen konnten. Dadurch hat sich der Familienalltag verändert: weniger Ausflüge, Theaterbesuche und Verabredungen, dafür mehr Spaziergänge, Netflix- oder Spieleabende. Angst im eigentlichen Sinne hatte ich aber nie wirklich. Ich bewerte die vergangenen Monate auch nicht negativ oder trauere Dingen nach. Die Zeit war schlichtweg anders, und ich habe versucht, das Beste daraus zu machen. Jammern ändert ohnehin wenig, Kreativität und Optimismus helfen dagegen immer.
Die Schutzfrau
Ulrich Reinhardt ist Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg und Professor für empirische Zukunftsforschung an der Fachhochschule Westküste in Heide. Einmal jährlich gibt Ulrich Reinhardt den Freizeit-Monitor heraus, eine umfassende empirische Untersuchung über das Freizeitverhalten der Deutschen. Darüber hinaus arbeitet er als Keynote-Speaker und Buchautor. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen „Europas Zukunft“, „Die Zukunft des Konsums“ sowie „Schöne neue Arbewelt: Was kommt, was bleibt, was geht“.