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Digitalisierung

„Wir werden dramatische Umwälzungen haben“

Künstliche Intelligenz verspricht Effizienzgewinne im Versicherungssektor. Dafür braucht es aber auch die technische Infrastruktur in den Unternehmen. Und eine Regulierung, die Innovationen erlaubt, wie auf dem IT-Gipfel des GDV betont wurde.

Karsten Röbisch (© Christian Kruppa / GDV)
Karsten Röbisch
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© GDV / Florian Tretenbach

Der 30. November 2022 markiert so etwas wie einen iPhone-Moment in Sachen künstlicher Intelligenz (KI). An jenem Tag präsentierte das US-Unternehmen OpenAI die Software ChatGPT – ein Chatbot, der in der Lage ist, auf Basis bestehender Informationen neue, menschenähnliche Inhalte zu generieren. Diese sogenannte generative KI (Artificial Intelligence, genAI) führte auch technischen Laien erstmals eindrucksvoll vor Augen, wie gut Algorithmen inzwischen Sinnzusammenhänge erkennen und auf menschliche Art kommunizieren können.

Systeme mit solchen Fähigkeiten dürften auch die Entwicklung in der Versicherungswirtschaft in den nächsten Jahren prägen, wie auf dem IT-Jahreskongress des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in Köln betont wurde. „Wir werden dramatische Umwälzungen haben“, sagte Hans-Jörg Schäuble von Aleph Alpha, einem Entwicklungshaus für KI-Systeme. Von einem sogenannten „Game-Changer“ ist die Rede, wobei Schäuble den iPhone-Moment für den Versicherungssektor auf früher datiert. Denn KI-Systeme sind längst im Einsatz: ob als Chatbot zur Beantwortung einfacher Kundenanfragen, bei der Sortierung der Eingangspost, in der Betrugsbekämpfung oder der automatisierten Schadenregulierung.

Beschleuniger interner Prozesse

Generative AI hebt das Ganze jedoch auf ein anderes Niveau: „KI ist eine neue Art für Prozessautomatisierung und kann in der gesamten Wertschöpfungskette eingesetzt werden", betont Mark Klein, Chief Digital Officer der Ergo Group. Die aktuellen KI-Anwendungen seien wahrscheinlich die schlechtesten, die „wir je erleben werden“. Mit generativer KI lassen sich noch mehr Abläufe automatisieren, Services noch schneller oder der Kundendialog noch besser gestalten.

Ein Beispiel dafür liefert Helvetia. Der Schweizer Versicherer hat den nach eigenen Angaben ersten ChatGPT-Service für Versicherungskunden gestartet. Seit Ende November dieses Jahres beantwortet der bereits zuvor bestehende Chatbot namens „Clara“ sämtliche Kundenanfragen auf Basis von GPT. Der Unterschied: Statt vordefinierten Frage-Antwort-Pfaden agiert das System nun selbstständiger und generiert individuelle Antworten. Das bedeutet mehr Kreativität und ein besseres Erlebnis für Kunden, sagt Florian Nägele, Head of Conversational & Marketing Automation bei Helvetia Schweiz. „Mit generativer KI verändern sich die Erwartungen und Anforderungen der Kunden. Wer keine Chat- und Voice-Bots anbietet, verliert Kundenzugänge.“

Generative KI bietet viel Verbesserungspotenzial

Gerade in einem datengetriebenen Sektor, der nichts produziert, sondern nur virtuelle Produkte verkauft, bietet die Technologie etliches Verbesserungspotenzial. „Generative künstliche Intelligenz wird die Wertschöpfung in den Kernprozessen unserer gesamten Branche verändern“, betont Nägele. Wer eine Kundin bereits über den Chatbot empfangen hat, kann beispielsweise über diesen Weg gleich die wichtigsten Tarifmerkmale abfragen, um ihr blitzschnell ein maßgeschneidertes Angebot zu unterbreiten. Von der Antragsbearbeitung über die Tarifierung bis hin zum Vertragsabschluss und letztlich auch die Kapitalanlage könnte der Prozess weitgehend computergestützt ablaufen.

Damit verbunden sind enorme wirtschaftliche Vorteile: Höhere Effizienz durch schnellere Abläufe, weniger Verwaltungsaufwand und – so die Hoffnung – auch weniger Kosten durch eine genauere Risikoeinschätzung. Um diese Potenziale heben zu können, müssen die Unternehmen allerdings die Voraussetzungen schaffen: Das beginnt bei der technischen Infrastruktur. „Versicherer müssen ihre Prozesse konsequent digitalisieren und automatisieren“, sagt Ergo-Manager Klein. Ohne Daten gebe es keine KI, betont auch Schäuble von Aleph Alpha.

KI-Technologie mit Unternehmensstrategie verzahnen

Dabei ist vor allem die Führung gefordert: „Wir brauchen Technologie- und Veränderungskompetenz im Top-Management. Es muss bei KI mitziehen", sagt Ralf Oestereich, IT-Vorstand der Süddeutschen Krankenversicherung (SDK). Die Unternehmen müssten schneller werden und könnten es sich nicht leisten, noch länger zu warten. „Die Entwicklung von KI steigt exponentiell. Wer nicht auf den Zug aufspringt, verliert den Anschluss", warnt Oestereich.

KI ist aber nicht nur eine Chance, es bedeutet auch Risiken. Das betrifft zum einen die Beschäftigten. Für monotone, gleichgerichtete Tätigkeiten werden künftig weniger Mitarbeiter gebraucht – solche Aufgaben erledigen Maschinen schneller. „Jobverluste und Arbeitsplatzunsicherheit könnten zunehmen“, so Oestereich. Einerseits. Andererseits eröffnen sich auch neue Berufsfelder. Zudem können Algorithmen die Mitarbeiter eben gerade von monotonen Tätigkeiten entlasten. „So bleibt mehr Zeit für komplexe und schwierige Vorgänge", betont Klein von Ergo.

Das wohl größte Risiko von KI besteht in ihrer diskriminierenden Verwendung. „KI-Modelle können selbst nicht entscheiden, was moralisch richtig und falsch ist“, so Nägele. Die Nutzer hätten daher eine Verantwortung für die korrekte Verwendung. Um den Missbrauch zu verhindern, arbeitet die EU an einem Regulierungsrahmen für KI-Anwendungen, die Verhandlungen stehen kurz vor dem Abschluss. GDV-Geschäftsführerin Käfer-Rohrbach hofft auf eine Entscheidung mit Augenmaß, die die bereits hoch regulierten Versicherer in ihren Möglichkeiten nicht zu sehr beschneidet: „Wie so oft muss eine Balance aus Chancen und Risiken gefunden werden.“ Ähnlich sieht es Nägele von Helvetia: „Die Hyperfokussierung auf die Risiken führt dazu, dass wir die Chancen übersehen."

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