Alltagsgefahren

13.11.2019

Das sind Ihre ech­ten Risi­ken

Im Leben gibt es viele Risiken. Den seltenen messen Menschen aber oft eine größere Bedeutung bei als den Alltagsgefahren. Das kann zu irrationalem Verhalten führen.

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Mütze und Schal im Winter schützen vor Erkrankungen. Gerade Lungenentzündungen zählen zu den häufigsten Todesursachen, das Risiko wird aber oft unterschätzt.

Der Wohnungsbrand zählt mit zu den unterschätzten Alltagsgefahren. 

Die Deutschen sind verglichen mit anderen Nationen ein eher ängstliches Volk. Sie fürchten das Waldsterben, den Super-Gau, die Hyperinflation und den Terror. Sie zittern vor der Vogelgrippe, den Stickoxiden, der Altersarmut und überhaupt jeder Form der Veränderung. Als „German Angst“ ist diese Paranoia sogar international bekannt.

Bei all ihrer Besorgnis fällt es den Deutschen jedoch schwer, Risiken richtig zu gewichten. So neigen sie dazu, häufige Gefahren zu unter-, seltene Ereignisse hingegen zu überschätzen. So geht laut einer Studie der TH Köln und der Universität Erlangen-Nürnberg beispielsweise jeder Vierte davon aus, dass Menschen hierzulande eher „häufiger“ durch einen Terroranschlag zu Tode kommen. Dabei liegt die Wahrscheinlichkeit dafür gerade einmal bei 0,0004 Prozent – wenn man die tragischen Ereignisse von 2016 zugrunde legt. Das Risiko ist damit ungefähr so hoch, wie durch einen Hornissen-, Wespen- oder Bienenstich zu sterben.

Außergewöhnliche Risiken werden eher überschätzt

Die Wahrscheinlichkeit, an einer Grippe oder Lungenentzündung zu sterben, ist fast fünfmal so hoch wie die Gefahr eines tödlichen Verkehrsunfalls.

Auch andere tödliche Gefahren – wie ein Motorrad-, Auto- oder Fußgängerunfall – werden von vielen Deutschen chronisch überschätzt. Horst Müller-Peters, Professor an der TH Köln, führt das vor allem auf die „hohe Medienwirksamkeit solcher Ereignisse“ zurück. Hier wirkt das Prinzip der sogenannten „Verfügbarkeitsheuristiken“. Das heißt: Je öfter wir von einem Vorfall hören oder lesen, desto größer halten wir die Wahrscheinlichkeit eines solchen Vorfalls. Erfahrungen in der Familie oder im Freundeskreis können ebenfalls dazu führen, dass wir Wahrscheinlichkeiten falsch bewerten.

Weil die Menschen vor allem auf die außergewöhnlichen Fälle achten, geraten die Alltagsgefahren in den Hintergrund. Wer weiß schon, dass 2015 allein rund 24.000 Menschen in Deutschland an der Zuckerkrankheit starben? Oder rund 21.000 an einer Grippe oder Lungenentzündung? Viele Tote würde es wohl nicht geben, wenn sich die Menschen gesünder ernähren oder sich von Zeit zu Zeit mehr schonen würden. Gesundheitsrisiken werden eben meist unterschätzt. „Bei solchen Dingen verdrängen die Menschen oft – und vergessen, dass so ein Schicksalsschlag jeden treffen kann“, beobachtet Müller-Peters.

Die Chance auf ein langes Leben bewerten viele falsch

In der Studie des MEA unterschätzten Männer wie Frauen ihre Lebenserwartung um rund sieben Jahre. 

Ein hohes Alter zählt ebenfalls zu den Ereignissen, deren Eintrittswahrscheinlichkeit die Menschen falsch bewerten. Bei einer Studie des Munich Center for the Economics of Ageing aus dem Jahr 2012 unterschätzten die  Befragten ihre Lebenserwartung durchschnittlich um sieben Jahre. Frauen trauten sich ein Alter von maximal 80,3 Jahren zu, statistisch waren es aber 87,4 Jahre. Die Männer rechneten mit 75,8 Jahren, hatten aber im Schnitt 82,2 Jahre zu erwarten.

Risiken schlecht einschätzen zu können, ist kein triviales Problem. Die verzerrte Wahrnehmung von Gefahren führt mitunter zu irrationalem Verhalten. Das zeigt zum Beispiel eine Untersuchung des Reiseverhaltens der Amerikaner nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Über Monate danach nutzten viele US-Bürger auch für weite Distanzen lieber das Auto als das Flugzeug. Das Resultat: In den zwölf Monaten nach den Anschlägen starben 1.600 Menschen mehr auf den Straßen, als statistisch zu erwarten gewesen wären.

Nicht den Bauch, sondern Fakten sprechen lassen

Die Lebenserwartung zu unterschätzen, kann sich ebenfalls negativ auswirken. Denn dann reicht womöglich das Geld im Alter nicht aus. Dabei taugt für die Finanzplanung selbst die Statistik nur „bedingt zur Orientierung“, wie Jochen Ruß vom Institut für Finanz- und Aktuarwissenschaften weiß: „Die Lebenserwartung beschreibt den Normalfall, also einen statistischen Durchschnittswert über sehr viele Menschen. Wenn Sie 100.000 60-jährige Männer haben, dann werden die laut Statistischem Bundesamt im Schnitt 87,5 Jahre alt. Aber für den Einzelnen sagt das eben nichts aus. Er kann Pech haben und schon mit 75 Jahren sterben, er kann aber auch Glück haben und 95 oder älter werden.“

Auch die Statistik kann letztlich das individuelle Risiko nicht exakt bestimmen. Dennoch ist sie zuverlässiger als der eigene Bauch. „Entscheidungen auf der Grundlage eines gefühlten Risikos sind notwendigerweise suboptimal“, erklärt Tim Stuchtey, Direktor des Brandenburgischen Instituts für Gesellschaft und Sicherheit (BIGS). Und das gilt nicht nur für die Abschätzung der großen Lebensrisiken, sondern auch für die scheinbar kleineren Gefahren des Alltags. „Die wichtigste Grundlage dafür sind nüchterne Fakten und Statistiken – nicht das Bauchgefühl.“